Das dicke Geschäft mit dem Fasten

von Redaktion

VON KATRIN WOITSCH

Oberstaufen – In Oberstaufen schläft kaum ein Urlauber aus. Die meisten lassen sich schon um 3 Uhr morgens wecken – und einpacken. Zum Beispiel von Barbara Geißler. Die 23-Jährige ist professionelle Packerin. Wenn sie vor Sonnenaufgang an die Türen der Gäste im Hotel ihrer Eltern klopft, hat sie nasse, kalte Tücher dabei. In die werden die Urlauber für rund zwei Stunden fest eingewickelt. Erst muss der Körper Wärme produzieren, dann entspannt sich die Muskulatur und es kommt zu fieberartigen Schweißausbrüchen. Klingt alles nicht nach der schönsten Art, geweckt zu werden – für das Immunsystem ist die sogenannte Schrothkur aber der Hauptgewinn. Geißler weiß, wovon sie spricht. Nicht nur, weil sie die Kur selbst zweimal pro Jahr macht. „Man sieht schon nach wenigen Tagen eine Wirkung bei den Gästen“, berichtet sie. Der Körper scheidet Säuren, Stoffwechselrückstände und Schadstoffe aus – dadurch wird die Haut reiner, die Heilungs- und Abwehrkräfte werden aktiviert und Stress abgebaut. Und natürlich purzeln bei dieser Kur auch die Pfunde.

Die kalten Wickel sind allerdings nur ein Teil der Prozedur. Dazu gehören auch Trink- und Trockentage, analog dazu ein Wechsel aus Ruhe und Bewegung und eine Diät, bei der auf Fleisch, Fett, tierisches Eiweiß und Salz verzichtet wird. Auch Koffein und Nikotin sind tabu. Der böhmische Fuhrmann Johann Schroth hat diese Kur 1820 wegen seines steifen Knies erfunden, wurde dafür einst aber als Kurpfuscher bezeichnet. Auch einige Mediziner und Ernährungswissenschaftler lehnen die ursprüngliche Kur ab. Kurarzt Hermann Brosig war davon überzeugt und brachte sie in den 50ern nach Oberstaufen ins Allgäu.

Und der Ort hat die Schrothkur geschickt fürs Selbstmarketing genutzt. Seit Jahrzehnten kommen Urlauber dorthin, um zu fasten, zu entgiften und dem Alltagsstress zu entgehen. Nicht nur in der Fastenzeit. „Aber zu dieser Jahreszeit sind die Kuren natürlich besonders gefragt“, sagt Tourismusdirektorin Constanze Höfinghoff. Sie ist erst vor vier Jahren aus dem hohen Norden nach Oberstaufen gezogen – war aber seitdem schon dreimal „Schrotherin“, wie die Einheimischen ihre Kurgäste liebevoll nennen.

Klar, Schrothkur klingt nicht so ansprechend wie Detox oder Ayurveda, räumt Höfinghoff ein. Trotzdem sind die Anwendungen auch bei jungen Leuten sehr gefragt, berichtet sie. Besonders seit den Corona-Jahren. „Mehr Menschen möchten etwas für ihre Gesundheit tun und bewusster leben.“ Meistens seien das Frauen, Männer werden häufig aber „mitgeschleppt“ und seien genauso schnell begeistert. Die Kuren werden von Ärzten begleitet, die auch ein paar Tricks auf Lager haben, wenn sich zum Beispiel der Nikotin-Entzug stark bemerkbar macht.

Natürlich gibt es auch Gäste, die die Kur abbrechen oder anfangs zu kämpfen haben, berichtet Barbara Geißler. Gerade das Einwickeln sei eine sehr intime Sache. Oft vertrauen ihr die Gäste in diesen Momenten viel an – die Geschichten, die hinter Narben stecken zum Beispiel. „Bei der Kur passiert auch viel mental“, sagt die 23-Jährige. Für viele ist es eine Herausforderung, einfach mal zwei Stunden nur zu entspannen, ohne Handy, Buch oder Kopfhörer. Das lohnt sich aber, betont sie. „Die Gedanken werden dabei geordnet.“

Geißler ist nicht nur Packerin – sondern auch Bayern-Botschafterin. Sie will nicht nur für die Kuren werben, sondern auch für das bayerische Lebensgefühl. Denn Oberstaufen hat noch mehr zu bieten als das Schrothen, betont sie. Die Berge, den lebendigen Ortskern, die Angebote für Familien. „Aber die Kur ist unser Alleinstellungsmerkmal, so etwas wie die Seele des Ortes“, sagt Geißler. Deshalb kommen viele Gäste Jahr für Jahr wieder.

Petra Siefenhofer zum Beispiel – sie ist seit Herbst 2022 leidenschaftliche Schrotherin. Auch wenn sie sich anfangs erst mal an die besondere Form des Fastens gewöhnen musste. Inzwischen will sie darauf nicht mehr verzichten. Sie sagt: „Die Packungen sind wie ein Ölwechsel, den man am Auto ja auch regelmäßig macht, damit es fahrbereit bleibt.“

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