Seeshaupt – Die Woche beginnt für die Anwars im Zug. Sie müssen um 9 Uhr am Montagmorgen im Konsulat in Frankfurt sein. Aus Sorge, sich zu verspäten, steigen sie bereits am Sonntagabend um 23 Uhr in den Zug. Hamid Anwar hat sich extra dafür freigenommen, die drei Kinder Rafiq, Aliza und Noor haben Faschingsferien. Sie sind sechs bis zehn Jahre alt – und wissen, wie wichtig der Termin im Konsulat ist. Denn es ist bereits Hamid Anwars zweiter Versuch, dort einen Pass zu beantragen.
Vor ein paar Wochen hat er schon einmal freigenommen, ist mit seiner Duldung und seiner Identity Card in den Zug gestiegen und hat in Frankfurt Formulare ausgefüllt. Nach zwei Monaten erhielt er eine Mail. Darin stand, seine Unterlagen seien nicht komplett, er müsste alles noch mal neu beantragen. Die Anwars haben einen Helfer an ihrer Seite: Gerd Bader. Er kennt die Familie, seit sie vor einigen Jahren nach Sees-haupt im Kreis Weilheim-Schongau kam. Seitdem unterstützt er sie auf ihrem Weg – und manchmal muss er den Kopf über die deutsche Bürokratie schütteln, sagt er. „Ich habe selbst dreimal beim Konsulat angerufen und zwei Mails geschickt – ohne eine Auskunft zu bekommen, was fehlt.“ Den Anwars bleibt nichts übrig, als es noch mal zu versuchen. Für sie geht es um viel.
Weihnachten vor einem Jahr hatte die Familie in Abschiebeangst verbracht (wir berichteten). Mitte Dezember kam der Brief der Zentralen Ausländerbehörde. Darin wurden die Anwars aufgefordert, freiwillig auszureisen. Andernfalls drohe ihnen die Abschiebung nach Pakistan. Damals lebte die Familie bereits acht Jahre in Bayern. Zwei der drei Kinder sind hier geboren, alle fünf sprechen gut Deutsch, die Kurse haben sie selbst finanziert. Denn nur mit einer Duldung hatten sie keinen Anspruch auf Deutschunterricht. Die Kinder haben Freunde, brauchen keine Unterstützung in der Schule. In Pakistan haben Hamid und Rabia Anwar nie gelebt. Sie verstehen nicht einmal die Sprache. Aber Hamids Eltern hatten pakistanische Pässe, direkt nach seiner Geburt sind sie nach Libyen geflohen. Er war sein Leben lang Flüchtling, hatte nie einen Pass. Gemeinsam mit seiner Frau floh er 2014 über das Mittelmeer nach Deutschland.
Als der Brief damals kam, unterstützte nicht nur Gerd Bader die Anwars – sondern auch die Rechtsanwältin Anna Fröhlich. Sie entdeckte ein 23 Jahre altes Asylrechts-Urteil, nach dem Menschen nicht abgeschoben werden dürfen, wenn sie von einer bevorstehenden Gesetzesänderung profitieren würden. Im Januar 2023 trat das Chancenaufenthalts-Recht in Kraft. Es ist gedacht für Geflüchtete wie die Anwars. Wer mehr als fünf Jahre mit Duldung in Deutschland gelebt hat, bekommt die Chance auf ein dauerhaftes Bleiberecht. Antragsteller haben 18 Monate Zeit, Deutsch zu lernen, Arbeit und Wohnung zu finden und finanziell auf eigenen Beinen zu stehen. Und einen Pass vorzulegen.
Hamid Anwar macht vor allem der letzte Punkt Sorgen. Wenn er dieses Mal in Frankfurt wieder nicht weiterkommt, weiß er nicht weiter. Eine Arbeit hat er bereits bei einem Solarzentrum in Weilheim gefunden. Er ist gut im Team integriert. Die Familie wohnt aktuell in einer Wohnung des Landratsamtes und ist auf der Suche nach einer dauerhaften Bleibe. Um das bezahlen zu können, sucht auch Rabia Anwar nach Arbeit. Sie spricht sehr gut Deutsch, kennt sich mit Computern aus – aber es müsste eine Halbtagsstelle in der Nähe sein, damit sie nachmittags die Kinder betreuen kann.
Rund 7500 Menschen in Bayern haben laut Innenministerium über das Chancen-Aufenthaltsrecht bereits eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. 14 500 Anträge wurden vergangenes Jahr bei den Ausländerbehörden gestellt. 1380 davon wurden abgelehnt. Für die meisten der Antragsteller läuft gerade die 18-monatige Frist, um alle Bedingungen für das dauerhafte Bleiberecht zu erfüllen. Viele Asylhelfer in Bayern berichten, dass gerade die bürokratischen Hürden für die Geduldeten ohne Hilfe nicht zu bewältigen seien. Auch Gerd Bader versteht nicht, warum es gut integrierten Menschen so schwer gemacht wird. „Das ist beschämend“, findet er.
Die Anwars lassen sich jedoch nicht entmutigen. Sie haben erneut Formulare ausgefüllt und Dokumente vorgelegt. Es werden wieder Wochen vergehen, bevor sie vom Konsulat hören. Trotzdem sind sie voller Hoffnung, dass sie in 14 Monaten endlich eine Perspektive haben könnten – und dass die Angst, in ein fremdes Land abgeschoben zu werden, endlich hinter ihnen liegt.