Der „klare Regelverstoß“ des Lokführers

von Redaktion

VON DIRK WALTER

München – Martin Will (68) ist Sachverständiger im Eisenbahnwesen und immer dann gefragt, wenn es bei der Bahn einen Unfall gab. Er untersuchte schon das verheerende Unglück von Bad Aibling, aber auch ein Unglück in Aichach 2018 (zwei Tote). Wenn erst das Unglück von Garmisch-Partenkirchen vor Gericht kommt, wird man ihn wieder sehen – auch hier ist er Sachverständiger.

An diesem Mittwoch erklärt er dem Amtsgericht München den Hergang des Unfalls von Schäftlarn. Zwei S-Bahnen stießen am 14. Februar 2022 zusammen, ein Fahrgast starb, 51 Personen wurden verletzt.

Will war im Führerstand einer S-Bahn die Unglücksstrecke abgefahren und hatte mitgefilmt. Zudem wertete er Daten aus. Die Unfallursache scheint daher festzustehen: Der Lokführer Richard Z. hat bei der Ausfahrt aus dem Bahnhof Ebenhausen-Schäftlarn ein „Halt“ zeigendes Ausfahrsignal überfahren. Als er deswegen eine Zwangsbremsung erhielt, genehmigte er sich durch Tastendruck im Pult des Führerstands selbst die Weiterfahrt auf der eingleisigen Strecke. „Einfach die Fahrt ohne Zustimmung des Fahrdienstleiters fortzusetzen, ist der größtmögliche Fehler“, sagte Will. „Ein klarer Regelverstoß.“ Als die S-Bahn von Richard Z. schon auf 67 km/h beschleunigt worden war, sah er plötzlich eine entgegenkommende, nun schon stehende S-Bahn, die Richtung Wolfratshausen unterwegs war. Richard Z., das zeigt die Daten-Analyse des Gutachters, leitete noch eine Schnellbremsung ein – doch zu spät: Mit 57 km/h rammte seine S-Bahn den stehenden Zug. Zuvor war Richard Z. noch aus dem Führerhaus nach hinten in den Fahrgastraum geflüchtet. Das geht, weil sich die Tür von innen öffnen lässt. „Sonst hätte er das auch nicht überlebt“, sagte der Gutachter. Als der Feuerwehrkommandant von Hohenschäftlarn den Lokführer am Boden der halb zertrümmerten S-Bahn fand, dämmerte diesem wohl schon, dass er etwas falsch gemacht hatte. „Was ist passiert, ist das meine Schuld?“, habe er immer wieder gefragt. Das gab der Kommandant so zu Protokoll.

Durch Analyse einer Haarprobe und eine Blutprobe ist nachgewiesen, dass Z. nicht unter Drogen oder Alkohol stand. Richard Z. selbst hat keine Erinnerung an den Unfall, kann sich sein Fehlverhalten auch nicht erklären.

Entlastend könnte in seinem Fall wirken, dass sich bei der Ausfahrt aus dem Bahnhof Ebenhausen-Schäftlarn zwei Zwangsbrems-Systeme fast überlappen. Zum einen wird ein Zug mit einem an der Schiene installierten 500-Hertz-Magneten gebremst, wenn er bei der Ausfahrt schneller als 25 km/h unterwegs ist. Zum zweiten wirkt ein 2000-Hertz-Magnet, falls ein Zug das Ausfahrtssignal trotz Haltebefehl überfährt. Eine Zwangsbremsung durch die 500-Hertz-Überwachung ist Alltag bei der Eisenbahn, ein überfahrenes Haltesignal nicht. Dem Lokführer wird die Zwangsbremsung im Führerstand angezeigt, nicht jedoch der Grund. Könnte es sein, dass der Lokführer die Zwangsbremsung auf die falsche, weniger schlimme Ursache zurückführte und sich deshalb die Weiterfahrt genehmigte, fragte Richterin Nesrin Reichle. „Da sehe ich eine Möglichkeit“, sagte Gutachter Will.

Am Rande kamen mögliche Sicherheitsmängel bei der Bahn zur Sprache: Richard Z. hatte in sechs Monaten zwölf Geschwindigkeitsverstöße als Lokführer, was nicht geahndet wurde. „Ich verstehe nicht, wie lax die DB damit umgeht“, sagte Will. Der Anwalt von Z. wies darauf hin, dass die Ahndung von Tempoverstößen in einer Betriebsvereinbarung der DB mit dem Betriebsrat geregelt ist – und das offenbar zugunsten der Lokführer sehr großzügig. Der Prozess wird fortgesetzt.

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