Eine Geschichte gegen den Hass

von Redaktion

VON KATRIN WOITSCH

München – Es wäre viel leichter gewesen zu hassen. Abba Naor hat es versucht. Er war 17, als die Todesangst und das grenzenlose Leid endeten. Er hatte alles verloren. Seine Heimat, seine Familie, seinen Glauben an das Gute. Und dann musste er mitansehen, wie einige der Täter in ein normales Leben zurückkehren durften. Damals schwor er sich, nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden zu setzen. Selbst den Kontakt zu seinem Vater, nach dem er so sehr gesucht hatte, brach er ab. Denn der hatte eine deutsche Frau geheiratet. Naor brauchte Jahre, um damit umgehen zu können. Er wanderte nach Palästina aus, heiratete, wurde Vater. Er wollte sich nie wieder mit seiner Vergangenheit befassen. Es kam anders.

„Wir Juden sind ein kleines Volk“, sagt er am Donnerstag vor rund 300 Zuhörern im NS-Dokumentationszentrum in München. „Wir können es uns nicht leisten, die ausgestreckte Hand zum Frieden abzuweisen.“ In den 90ern kehrte er erstmals auf Einladung der KZ-Gedenkstätte Dachau zurück in das Land der Täter. „Ich wollte nicht kommen – und dann wollte ich nicht mehr gehen.“ Endlich wurden Fragen gestellt. Endlich wollten die Menschen hören, was während des Holocausts passiert war. Naor begann zu erzählen – er hat bis heute nicht mehr damit aufgehört. Viele können das nicht mehr. Er ist einer der letzten Überlebenden.

Aufmerksam beobachtet er, wie sich das Auditorium in München immer mehr füllt. Es sind an diesem Abend mehr Menschen gekommen, als in dem großen Saal Platz finden. Die Türen werden geöffnet, weitere Stühle im Vorraum aufgebaut. Dann fängt der 95-Jährige an, mit ruhiger Stimme seine Geschichte zu erzählen. Sie beginnt mit einer glücklichen Kindheit im litauischen Kaunas. Doch dieses schöne erste Kapitel ist das kürzeste in seinem langen Leben. Er erinnert sich, wie er den Kakao, den seine Mutter ihm und seinen beiden Brüdern morgens machte, nie trinken wollte. Wie hätte er damals ahnen können, wie wertvoll das alles war?

Naor ist 13 Jahre alt, als die Familie in das Ghetto kommt. Dort wird sein älterer Bruder erschossen. Er sieht Hinrichtungen und Grausamkeiten, die er sich nicht hatte vorstellen können. „Es hat sich herausgestellt, dass Erschießen ein sehr milder Tod ist“, sagt er nüchtern. Die Familie wird ins KZ Stutthof bei Danzig deportiert. Von dort ging es für seine Mutter und seinen fünfjährigen Bruder weiter nach Auschwitz. „Sie wurden noch am selben Tag vergast.“ Abba Naor wird von seinem Vater getrennt. Er ist jetzt ganz auf sich allein gestellt. Irgendwie schafft er es, sich durchzuschlagen. Erträgt den unvorstellbaren Hunger, die harte Arbeit, oft zwölf Stunden am Stück. Die Prügel und brutalen Quälereien der Nazis. Er wird mit anderen Häftlingen nach Utting gebracht. Die Reise dauert eine Woche in einem Viehwaggon – ohne Essen und Trinken. Abba Naor überlebt auch das. Und dann das KZ-Außenlager in Kaufering, eines der brutalsten Arbeitslager. Dann der unmenschliche Todesmarsch. Ohne Essen, ohne Pausen, tagelang. Als er am 2. Mai 1945 in Waakirchen bei Bad Tölz aufwacht, sind die SS-Männer verschwunden. „Wenige Stunden später kamen die Amerikaner“, erzählt er.

Es ist keine leichte Geschichte, die er mitbringt. Er weiß das. „Aber ich hab ja nur die eine.“ Er mutet sie auch Jugendlichen zu. Allein vergangenes Jahr hat der 95-Jährige hundert Mal vor Schulklassen gesprochen. Er will, dass alle wissen, was passiert ist – damit es sich niemals wiederholen kann.

„Sind Sie gläubig?“ – diese Frage stellen ihm die Schüler häufig. „An wen soll ich glauben?“, fragt er dann. Damals, im KZ, blickte er in Momenten größter Hoffnungslosigkeit in den Himmel und fragte: Wo bist du, Gott? „Da war keiner. Deshalb glaube ich an keinen Gott. Aber ich habe meinen Glauben an die Menschen nicht verloren.“ Weil es damals auch die gab, die Menschen geblieben sind, sagt er. Es mussten ein paar Jahre vergehen, bis er den Hass hinter sich lassen konnte. Heute ist seine Botschaft: „Das Leben ist eine feine Sache. Man muss das Richtige damit machen.“

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