Der Hitler-Prozess – als die Justiz versagte

von Redaktion

ZEITGESCHICHTE Vor 100 Jahren standen in München die Putschisten von 1923 vor Gericht

VON DIRK WALTER

München – Historiker sprechen von einem Justizskandal erster Güte: Vor 100 Jahren startete in München der Hitler-Prozess – genauer gesagt der Prozess gegen Adolf Hitler und neun Mitverschwörer wegen ihres Putschversuches vom 8./9. November 1923.

Der Hitlerputsch dauerte bekanntlich keine 24 Stunden. Am 9. November 1923 kurz nach 13 Uhr stoppte die Landespolizei die Putschisten, die in einer Art Verzweiflungstat circa 2000 Mann stark durch die Münchner Innenstadt marschiert waren, ehe sie nach einem Schusswechsel am Odeonsplatz in alle Himmelsrichtungen flohen. Rädelsführer Adolf Hitler wurde zwei Tage später am Staffelsee verhaftet. Der Weltkriegsgeneral Ludendorff erhielt in seinem Haus in Solln Hausarrest.

Am 26. Februar 1924, 8.45 Uhr, begann die juristische Aufarbeitung des Putsches. Mit Ludendorff an der Spitze, gefolgt von Hitler und dem ehemaligen Münchner Polizeipräsidenten Ernst Pöhner (der von den Putschisten als bayerischer Ministerpräsident vorgesehen war), betraten die Angeklagten mit ihren Anwälten die Kriegsschule in der Münchner Blutenburgstraße – dorthin war das Gericht ausgelagert worden. Heute ist hier eine Grundschule.

Der erste Prozesstag dauerte bis 18.30 Uhr und war das Ereignis des Tages. Die „Münchner Neuesten Nachrichten“ widmeten dem Auftakt fünf Seiten extra. Es gab Menschenansammlungen auf der Straße, viele wollten die Putschisten einmal „live“ sehen. Innen im Saal verlas Staatsanwalt Ludwig Stenglein zunächst die Anklage, was über eine Stunde dauerte. Hitler und seine Mitverschwörer wurden des Hochverrats bezichtigt – eine lange Freiheitsstrafe war zu erwarten. Stenglein wurde unterstützt vom 2. Staatsanwalt Hans Ehard, der nach 1945 für die CSU bayerischer Ministerpräsident werden sollte. Nach Stenglein ergriff Hitler das Wort, der sich gewohnt weitschweifig erklärte. Gleich zu Beginn kam er indes auf den Punkt: „Wenn ich Hochverrat getrieben haben soll, wundere ich mich, dass nicht auch andere hier sitzen“, sagte er. Damit spielte er darauf an, dass die Staatsanwaltschaft keine Mühe unternommen hatte, das Verhalten von Gustav von Kahr, Otto von Lossow sowie Hans von Seißer zu klären. Kahr war damals Generalstaatskommissar mit exekutiven Vollmachten, rechtskonservatives Mitglied der regierenden Bayerischen Volkspartei und der eigentliche Herrscher in Bayern. Lossow war der Befehlshaber der Reichswehr in Bayern, Seißer Landespolizeichef. Alle drei waren im Bürgerbräukeller, als Hitler den Putsch initiierte. Sie wirkten überrumpelt.

Über ihr Verhalten gibt es bis heute unterschiedliche Interpretationen. Der ehemalige Archivar im Münchner Staatsarchiv, Reinhard Weber (77), hat 1998 zusammen mit den mittlerweile verstorbenen Historikern Lothar Gruchmann und Otto Gritschneder die Wortlaut-Protokolle der Prozesstage herausgegeben – über 1600 Seiten, ein Standardwerk. Landtags-Stenografen hatten den Prozessverlauf damals Wort für Wort dokumentiert. Dass es die Protokolle gibt, ist ein „Glücksfall“, sagt Weber. Die eigentlichen Prozessakten, 16 Bände, wurden kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs gezielt vernichtet.

Weber nennt Kahr „eine der fatalsten Figuren der bayerischen Zeitgeschichte vor 1933“. Kahr, ein überzeugter Antisemit, habe selbst Pläne für die Errichtung einer nationalen Diktatur geschmiedet und mit den Zielen der Putschisten geliebäugelt. Über Stunden nach Ausrufung der „nationalen Revolution“ durch Hitler am Abend des 8. November 1923 lavierte er – bis er gegen 3 Uhr nachts dann doch auf Gegnerschaft umschwenkte. „Ich glaube, dass er anfangs mitmachen wollte“, sagt Weber.

Anderer Ansicht ist der Münchner Historiker Matthias Bischel, der im vergangenen Jahr neue Dokumente aus dem Nachlass Kahrs veröffentlicht hat. Er kommt zu dem Schluss, „dass Kahr den Umsturz wirklich von Anfang an ablehnte, sich aber aus allen Mitteln aus einer Zwangslage befreien und zudem genau abwägen musste, wann und wie er die beabsichtigte Gegenaktion einleiten konnte“.

Wie auch immer: Dass das Verhalten von Kahr überhaupt nicht hinterfragt wurde und er seine Überrumpelungs-These als Zeuge vor Gericht ohne großen Widerspruch vortragen konnte, bleibt eine Merkwürdigkeit des Prozesses. Es war beileibe nicht die einzige. Weber nennt weitere Fehler: Für Hochverrat wäre eigentlich der Staatsgerichtshof in Leipzig zuständig gewesen – dieses außerbayerische Reichsgericht, meint Weber, hätte wahrscheinlich härtere Strafen verhängt. Die Intervention eines nach Berlin entsandten Ministerialrats, nicht zufällig Schwager des deutschnationalen bayerischen Justizministers Franz Gürtner, verhinderte dies aber.

Sodann: Mehrere Straftaten wurden überhaupt nicht Thema des Hochverratsprozesses. Immerhin waren vier Polizisten getötet worden. Auch hatten Mitläufer der Putschisten Geld geraubt, andere Juden und Münchner Stadträte als Geiseln genommen – auch hier hinterfragte das Gericht nicht, ob das auf Befehl der Angeklagten geschehen war. Auch kam nicht zur Sprache, auf wessen Veranlassung der beim Putsch tödlich verwundete Richter am Bayerischen Obersten Landesgericht, Theodor von der Pfordten, eine neue Verfassung ausgefertigt hatte. Das Papier atmete den Geist des Nationalsozialismus, sah die Dienstenthebung jüdischer Beamter, Beschlagnahme des Vermögens von Juden und die Einführung von Standgerichten vor. Wusste Hitler davon? Das Gericht prüfte es nicht.

Die Untätigkeit des Gerichts hatte einen Grund: Der Vorsitzende Richter Georg Neidhardt war die denkbar unglücklichste Besetzung für das Münchner Volksgericht. Er hatte schon 1920 Graf Arco, dem Mörder des Revolutionärs Kurt Eisner, „glühendste(n) Liebe zu seinem Volke und Vaterlande“ bescheinigt. Ausgerechnet dem deutschnationalen Gesinnungsjuristen Neidhardt war nun turnusgemäß der Gerichts-Vorsitz übertragen worden, sagt Weber. Bestrebungen, dies durch Änderung der Geschäftsordnung zu verhindern, wurden durch Gürtner unterbunden.

Daher war es auch kein Wunder, dass die Urteile gegen die Putschisten am 1. April 1924 denkbar milde ausfielen. Ludendorff wurde freigesprochen – ein krasses Fehlurteil. Hitler und zwei Mitverschwörer erhielten nur je fünf Jahre Festungshaft (und 200 Mark Geldstrafe) – das war am unteren Strafrahmen. Weitere Putschisten kamen noch milder davon.

Die Angeklagten seien „bei ihrem Tun von rein vaterländischem Geiste und dem edelsten selbstlosen Willen geleitet“, führte Richter Neidhardt in seinem Urteil aus. Er schloss mit der Feststellung, dass ein Mann, „der so deutsch denkt und fühlt wie Hitler“ als Österreicher nicht ausgewiesen werden könne. In der Festungshaft in Landsberg schrieb Hitler sein Machwerk „Mein Kampf“. Schon am 20. Dezember 1924 kam er auf Bewährung (!) frei.

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