Die Blutspur der RAF in Bayern

von Redaktion

VON DIRK WALTER

München – Am 12. Mai 1972, einem Freitag, gegen 14.30 Uhr erschütterte eine gewaltige Detonation die Münchner Innenstadt. Auf dem Parkplatz des Landeskriminalamtes in der Maillingerstraße waren Bomben explodiert. 30 Autos wurden förmlich zerfetzt –- ein Millionenschaden. Kurz zuvor war noch ein anonymer Anruf eingegangen: „Räumen Sie sofort das ganze Gebäude“, dann krachte es auch schon. „Im Umkreis von 100 Metern rund um das LKA zersplitterten überall die Fensterscheiben“, berichtete unsere Zeitung unter der Überschrift „Bombenanschlag auf LKA – Höllenmaschine detonierte“. Wie die Polizei rasch herausfand, war eine 33-Kilo-Gasflasche auf dem Parkplatz in einem blauen Ford deponiert.

Wer das Auto dort hingestellt hatte, wurde rasch klar: Die RAF hatte erstmals bayerische Anschlagsziele ausgewählt. Damals war die Terrorgruppe noch eine junge Gruppierung – die nicht zufällig auch in München agierte. München hatte mit einer frühen Form der Stadtguerilla, den Tupamaros, seit Ende der 1960er-Jahre eine durchaus virulente, heute kaum mehr bekannte militante Szene, sagt Robert Wolff, Historiker bei der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung und ein Kenner des Linksextremismus in den 1970er-Jahren. Auch Andreas Baader, gebürtiger Münchner, wächst in diesem Milieu auf. Als RAF-Gründungsdatum gilt der 14. Mai 1970 – der Tag, an dem der spätere Topterrorist in Frankfurt aus der Haft entkommen konnte. Durch die sogenannte Baader-Befreiung wird die erste Generation der RAF zum Mythos: Es sind Namen, die sich durch Fahndungsplakate an Bahnhöfen ins Gedächtnis prägen: Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof, Jan-Carl Raspe – im Juni 1970 bilden etwa 20 Personen die RAF. So nennt man sie heute. Die Polizei spricht damals von „anarchistischen Gewalttätern“ und der „Baader-Meinhof-Bande“. Diese nimmt nun den Kampf gegen die verhasste Bundesrepublik und ihre Repräsentanten auf.

Bald gibt es die ersten Toten: Die erst 20 Jahre alte Terroristin Petra Schelm ist die erste RAF-Tote (Juli 1971, Hamburg). Auch Polizisten sterben, in Hamburg, in Kaiserslautern.

1972 ist das Jahr der Willy-Wahlen, Bundeskanzler Willy Brandt erreicht einen triumphalen Wahlsieg. Aber es ist auch ein Terrorjahr. Im September werden bei den Olympischen Spielen in München israelische Sportler ermordet. Auch der RAF-Terrorismus alarmiert die Polizei: Augsburger Polizisten wollen nach einem Hinweis am 2. März 1972 zwei RAF-Mitglieder verhaften. Bei der bis dahin nicht weiter bekannten Carmen Roll gelingt das, ihr Begleiter Thomas Weißbecker indes zieht seine Pistole, woraufhin Beamte ihn erschießen. Warum Augsburg? „RAF-Mitglieder tauchten dort unter und hatten konspirative Wohnungen, wo sie sich auskannten“, sagt Terror-Experte Wolff.

Der Anschlag in München im Mai ist die geradezu wütende „Antwort“ der RAF auf diesen tödlichen Schusswechsel. Schon zwei Stunden vor „München“ waren in der Augsburger Polizeidirektion Bomben detoniert. Besonders dreist: Ein bis heute Unbekannter mit Vollbart und langen schwarzen Haaren war einfach ins Gebäude hereinspaziert und hatte mehrere Bomben in Pappschachteln auf einem Schrank deponiert. Es entstand gewaltiger Sachschaden, ein Polizeiinspektor wird durch Splitter verletzt.

Anschläge erschüttern München auch in den nächsten Jahren. Im September 1975 explodiert eine Bombe in einem Schließfach am Hauptbahnhof, am 14. Mai 1976 im Stachus-Untergeschoss. Täter: bis heute unbekannt. Es sind Reaktionen auf „Größeres“: auf den Baader-Meinhof-Prozess (seit Mai 1975) in Stuttgart-Stammheim gegen Rädelsführer der ersten RAF-Generation und auf den Selbstmord von Ulrike Meinhof (9. Mai 1976).

Ein Sprung in die 1980er-Jahre: Inzwischen ist viel passiert: 1977 schockt der „Deutsche Herbst“ mit der Ermordung des Bankers Jürgen Ponto, des Generalbundesanwalts Siegfried Buback und des Arbeitgeber-Präsidenten Hanns-Martin Schleyer die Bundesrepublik. „Ponto, Buback, Schleyer – der nächste ist ein Bayer“, skandieren Sympathisanten – eine Anspielung auf CSU-Chef Franz Josef Strauß. Er wird scharf bewacht.

1984 ist schon die dritte RAF-Generation im Untergrund. „Die erste Generation war eine Gruppe“, sagt Historiker Wolff. „Die zweite bestand aus mehreren Gruppen. Die dritte aber bestand aus einer militärisch ausgebildeten Kommandoebene und daneben aus mehreren, bis heute kaum identifizierten Untergruppen, die zum Teil sehr brutal, aber auch in Teilen sehr dilettantisch vorgingen.“ Zu ihr zählt auch die nun festgenommene Daniela Klette (geboren 1958). Die „Offensive 84/85“ ist eine Reaktion auf einen Hungerstreik inhaftierter RAF-Terroristen, etwa Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt. Am 18. Dezember 1984 ist die Nato-Schule in Oberammergau ein Ziel. Ein mit einer Bombe präparierter Audi 80 mit einem US-Soldaten kann durch das Haupttor fahren. Wie sich bald herausstellt, war der Fahrer ein mit US-Uniform und gefälschter ID-Card getarnter Terrorist (dessen Identität nie ermittelt wird). Durch einen Defekt detoniert die Bombe nicht – es hätte Tote geben können.

Wie kaltblütig und brutal die RAF vorgeht, zeigt sich am frühen Morgen des 1. Februar 1985: Eine unbekannte Frau klingelt am Haus des 56-jährigen MTU-Chefs Ernst Zimmermann in Gauting (Kreis Starnberg). Frau Zimmermann öffnet. Daraufhin dringt ein bewaffneter RAF-Terrorist ins Haus ein. Die beiden Eindringlinge fesseln ihre Opfer. Frau Zimmermann muss in der Diele warten, Ernst Zimmermann wird im Schlafzimmer auf einen Stuhl gesetzt. Dann wird er mit einem Schuss in den Hinterkopf hingerichtet. Am 9. Juli 1986 ist es der Siemens-Manager Karl-Heinz („Charly“) Beckurts (56), der zusammen mit seinem Fahrer Eckhard Groppler (42) bei einem Anschlag auf der Straße kurz nach Straßlach (Kreis München) stirbt. Die Täter hatten Gasflaschen und 50 Kilo Sprengstoff am Straßenrand deponiert und genau dann gezündet, als der BMW vorbeifuhr. Der Sicherheitsdienst in einem Begleitfahrzeug kann nichts ausrichten. Das Entsetzen ist groß, erinnert sich Jahre später Claudia Groppler, Tochter des Fahrers, in unserer Zeitung: „Aus ganz Deutschland kam Post“, wildfremde Leute kondolierten der Witwe und ihren drei Kindern.

Sowohl die beiden Mörder von Gauting als auch die von Straßlach sind unbekannt. Dass die Festnahme von Daniela Klette hier Aufklärung bringt, glaubt Forscher Wolff nicht. „Sie wird auch bei Anwendung einer – unwahrscheinlichen – Kronzeugenregelung niemanden belasten.“ Die bayerischen Fälle sind, wie so Vieles in der Geschichte der RAF, eine offene Wunde der Bundesrepublik.

Artikel 2 von 9