Singen gegen die Einsamkeit

von Redaktion

VON KATRIN WOITSCH

München – Eigentlich wäre der Ordner mit den Liedtexten gar nicht nötig. Reiner Schön kennt die meisten ja sowieso auswendig. Kein Wunder, er hat ja schließlich sein ganzes Leben gerne gesungen. Aber jetzt, in der Rente, hat er sich sozusagen professionalisiert. Er ist ein Oldkehlchen geworden. Der Chor-Name steht in großen bunten Buchstaben auf der blauen Mappe – und die liegt nicht nur vor ihm auf dem Tisch, sondern auch vor rund 15 anderen leidenschaftlichen Sängern, die sich an diesem Montagvormittag in der Kunst-Werk-Küche des Münchner Werksviertels getroffen haben. Warmgeträllert haben sie sich bereits. „Jetzt singen wir das Kufsteinlied“, sagt Roland Hefter.

Der Münchner Liedermacher leitet den Rentner-Chor seit rund zwei Jahren. Er weiß, was in seinen Oldkehlchen steckt. Deshalb wird das Kufsteinlied heute zweistimmig gesungen. Das erfordert ein bisschen Training. Erst proben alle gemeinsam die zweite Stimme. „Sauber“, sagt Hefter nach ein paar Minuten. „Das habt’s ihr gut drin.“ Jetzt teilt er die Senioren in zwei Gruppen auf. Und wieder geht es los mit „Kennst du die Perle im schönen Tirol“.

Reiner Schön meistert beide Stimmen ohne schiefe Töne. Mit kräftiger Stimme arbeitet er sich durch die Verse bis zum Jodler, den Blick fest auf Roland Hefter und dessen Gitarre gerichtet. „Astrein“, sagt der Chorleiter danach. Und weil es so gut läuft, wagen sie sich nun an Freddy Quinns Seemann-Lied. Die Frauen übernehmen die hohe Stimme, die drei Herren die tiefe.

Gudrun Borkstedt liebt dieses Lied. Es erinnert sie an ihre norddeutsche Heimat. Die 75-Jährige hat die Verse von dem verträumten Seemann schon viele Male in ihrem Leben gesungen – aber früher lange nicht so selbstbewusst wie heute. „Ich singe so gerne“, erzählt sie. „Aber früher hieß es immer, ich könne es nicht und solle es lieber lassen.“ So einen Satz würde sie von Roland Hefter niemals hören. Im Gegenteil. „Bei uns im Chor darf jeder mitmachen“, sagt er. „Hier darf auch mal ein Ton danebengehen.“ Denn bei allem Ehrgeiz, die Oldkehlchen-Treffen sollen vor allem Spaß machen – und guttun. „Das Singen schult die Konzentration“, erklärt Hefter. Und einige ältere Menschen in München bewahren die Treffen auch vor der Einsamkeit oder helfen ihnen, Alltagsprobleme ein paar Lieder lang zu vergessen.

Die Idee dafür entstand auf einer Weihnachtsfeier des Vereins Ein Herz für Rentner, der in München Senioren unterstützt. Seitdem treffen sich die musikbegeisterten Herren und Damen alle zwei Wochen im Werksviertel und singen eine Stunde lang alte Schlager oder Volkslieder. Die Stimmung ist immer gut – und ganz von selbst wird der Chor immer besser. „Einmal sind wir bereits auf der Wiesn aufgetreten“, berichtet Gudrun Borkstedt. Sie gehe jeden Montag ein bisschen befreiter nach Hause, sagt sie. Für Sorgen oder Gedanken über Erledigungen, die gemacht werden müssen, ist kein Platz im Kopf, wenn es so musikalisch zugeht.

Renate Hauschildt geht es ganz ähnlich. Sie hat Gudrun Borkstedt und viele andere erst durch das Singen kennengelernt. Reiner Schön kannte sie schon – seine Frau war früher ihre Arbeitskollegin. Er hatte ihr von dem Chor berichtet, als er erfuhr, wie gerne sie singt. Und um ihr die Hemmungen zu nehmen, kam er kurzerhand mit. Inzwischen wollen die beiden ihren Montagmorgen-Termin auf keinen Fall mehr ausfallen lassen. „Da geht die Woche immer gleich gut los“, sagt der 77-Jährige und lacht. Renate Hauschildt freut sich immer besonders, wenn Roland Hefter einen Schlager aus ihrer Jugend ausgewählt hat. Heute hat sie Glück, das letzte Lied ist „Marina, Marina, Marina“. Die Ersten stimmen es schon an, bevor Hefter seinen Lied-Zettel gefunden hat. Und einige setzen dafür ihre Lesebrillen ab – bei diesem Schlager kann nicht nur Reiner Schön auswendig und hemmungslos mitsingen.

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