Sonthofen – Anton hat heute Würfelglück. Es ist noch nicht mal Mittag und er hat bereits zweimal im „Mensch ärgere dich nicht“ gewonnen. Und auch gerade läuft es wieder äußerst gut für ihn. Er würfelt eine Drei und schmeißt zielstrebig die schwarze Figur vor sich, während er sich ein paar Lachfältchen um die Augen lächelt. Ihm gegenüber sitzt Brunhilde in einem Rollstuhl. Seit einem Schlaganfall ist ihre rechte Körperhälfte gelähmt. Sie ist ein Pflegefall. Normalerweise kümmert sich ihr Ehemann rund um die Uhr um sie. Doch vor wenigen Tagen musste er am Herzen operiert werden. Deshalb ist Brunhilde gerade genau wie Anton Gast im Hotel Sonne in Sonthofen. Es kostet sie viel Konzentration, zu würfeln und ihre Figuren zu bewegen. Was wie ein Spiel wirkt, ist gleichzeitig ein Mobilitätstraining.
Die Inhaber Elke und Jörg Müller haben sich in ihrem Hotel im Allgäu auf Gäste mit körperlichen Einschränkungen spezialisiert. Anton hat einen Herzinfarkt hinter sich, muss aber noch ein paar Tage auf einen Reha-Platz warten. Die überbrückt er hier. Brunhilde ist Stammgast. Manchmal macht sie hier gemeinsam mit ihrem Mann Urlaub. Das ist die Idee des Pflegehotels. Pflegende Angehörige werden entlastet, Menschen mit Einschränkungen können Urlaub machen, Patienten, die auf die Reha warten, verlieren keine wertvolle Zeit – denn in diesem Hotel geht es nicht nur um Erholung. „Wir triezen unsere Gäste auch“, sagt Elke Müller mit einem Schmunzeln. Sie hat 30 Jahre als Krankenschwester gearbeitet und weiß, wie wichtig es ist, dass Menschen mit Einschränkungen gefordert werden. Besonders, wenn sich eine Reha verzögert. In ihrem Hotel hatte sie schon Gäste, die im Rollstuhl kamen und am Ende ihres Urlaubs zu Fuß wieder nach Hause gingen. „Ziel ist es, die Selbstständigkeit der Pflegebedürftigen so lange wie möglich zu erhalten“, betont sie.
Das Hotel der Müllers ist einzigartig in Bayern. Auch bundesweit gibt es nicht viele ähnliche Konzepte, sagen sie. Obwohl der Bedarf da wäre. Allerdings ist es alles andere als einfach, ein Pflegehotel zu eröffnen, berichten die Müllers. Ihr Hotel war schon vorher barrierefrei – das war ihnen wichtig. Aus der Corona-Not heraus, als kaum noch Gäste kamen, entstand die Idee für das neue Konzept. Also investierten die beiden in die Ausstattung und weitere Umbaumaßnahmen. Heute sind elf der 16 Zimmer für Pflegebedürftige geeignet. Die Betten dort haben die Ausstattung wie in einem Krankenhaus. Nur die Atmosphäre ist schöner: rot-weiß karierte Bettwäsche, die Allgäuer Berge direkt vor dem Fenster. Mittags gibt es ein Drei-Gänge-Menü, nachmittags frisch gebackene Kuchen zum Kaffee.
Doch mit der Heimaufsicht kam die Ernüchterung: Die Behörden beurteilten die Einrichtung als vergleichbar mit einem Pflegeheim. „Für ein Heim gelten andere Auflagen als für ein Hotel“, erklärt die 58-Jährige. „Man braucht einen Pflegedienstleiter, einen Personalschlüssel, mindestens drei Angestellte.“ Ihr und ihrem Mann blieb nichts anderes übrig, als kreativ zu werden: Sie gründeten einen eigenen Pflegedienst, der in dem Haus arbeitet. „Ein bürokratischer Wahnsinn“, sagt Elke Müller rückblickend. Trotzdem haben sie es irgendwie geschafft. 2021 konnten sie die ersten pflegebedürftigen Gäste begrüßen.
Einige sitzen im Rollstuhl, andere haben eine Sehbehinderung, leiden an Demenz oder an chronischen Lungenerkrankungen. Auch schwere Pflegefälle können die Müllers und ihr Team versorgen. Urlauber bleiben meist ein bis zwei Wochen, Einheimische manchmal länger. Die Unterkunft müssen die Gäste selbst bezahlen. Die Kosten für die Pflege übernimmt aber die Pflegekasse – bis zu 1612 Euro im Jahr. „Das reicht in der Regel für zwei Wochen in unserem Hotel“, sagt Jörg Müller. Der 60-Jährige ist gelernter Informatiker und Betriebswirt, hat aber gemeinsam mit seiner Frau noch eine Ausbildung zum Seniorenfachtrainer absolviert.
Das Konzept funktioniert, das Pflegehotel wird gut angenommen. Auch für pflegende Angehörige ist es ein Gewinn – Familien können gemeinsam Urlaub machen. Die Pflegekräfte helfen bei Bedarf, wo Hilfe gebraucht wird. Zum Beispiel bei der Körperpflege. Jeden Vormittag gibt es ein Mobilitäts- und Kognitionstraining. Manchmal ist das ein bisschen Gymnastik, manchmal eine Partie „Mensch ärgere dich nicht“, manchmal ein kleiner Ausflug.
Eigentlich könnten Elke und Jörg Müller stolz sein auf das, was ihnen gelungen ist. Doch der Alltag ist schwer. Trotz der guten Arbeitsbedingungen tun auch sie sich schwer, Pflegekräfte zu finden. Elke Müller ist nachts immer in Bereitschaft. Falls ein pflegebedürftiger Gast auf die Toilette muss und klingelt, geht der Alarm auf ihrem Handy an. „Wir haben in den vergangenen zehn Jahren nur zehn Tage Urlaub gemacht“, sagt sie. Das Pflegehotel ist ein Herzensprojekt, das viel Kraft kostet. „Unser Ansporn ist die große Dankbarkeit, die wir bekommen“, sagt die 58-Jährige. Ihr Pflegedienst ist inzwischen ein gemeinnütziges Unternehmen. Sie hofft auf Spenden. „Wir würden unser Angebot auch gerne Gästen mit wenig Geld ermöglichen“, sagt sie. „Wir sind überzeugt, dass es gebraucht wird.“