Tutzing – Der lange Arm der DDR-Staatssicherheit reichte bis in die Evangelische Akademie Tutzing. Mehr als 30 Jahre lang wurden die Aktivitäten der Akademie von der Stasi beobachtet, berichtete der frühere Studienleiter Willi Stöhr in einem Vortrag. Er hat mehr als 400 Seiten Akten im Bundesarchiv gesichtet
Der 72-Jährige war von 1983 bis 1991 Studienleiter der Akademie und stand während dieser Zeit wohl aufgrund seiner Kontakte zu DDR-Kirchenmitgliedern und Bürgerrechtlern selbst unter Beobachtung. „Es sind aber nur Karteikarten vorhanden, die Materialien sind wohl unauffindbar“, berichtete er über seine Stasi-Akte. Die Evangelische Akademie galt in der DDR als „Feindorganisation“, immer wieder wurde über Tagungen an die Stasi berichtet. So hat Stöhr Aufzeichnungen gefunden über Diskussionen, die vom 9. bis 19. Juli 1957 in Tutzing über die Wiedervereinigung, die sowjetische Politik unter Chruschtschow und über das Judentum in Deutschland stattfanden. Das Dossier dazu umfasst 49 Seiten, es enthält vier Seiten Teilnehmerliste, dazu Gesprächswiedergaben und sogar einen Grundriss des Tutzinger Schlosses, dem Sitz der Akademie. Insgesamt bescheinigte die Stasi der Akademie, „fälschlicherweise den Eindruck einer freien und wissenschaftlichen Wirkungsstätte“ zu erwecken. Das sei aber „Rattenfängerei“. Die Akademie wie überhaupt die führenden Personen der Kirche stünden „unter dem Einfluss der Nato-Politik“.
Als die Akademie 1986 eine Studienreise durch die Mark Brandenburg unternahm, wurden die Tutzinger lückenlos überwacht. Mehr als Belanglosigkeiten konnten die Spitzel aber nicht melden. „11 Uhr betrat die Reisegruppe die Kirche. Zu diesem Zeitpunkt wurde der Reisebus vor der Kirche in Richtung F167 abgeparkt“, hieß es im verquasten DDR-Sprech. Spionagetätigkeit der Tutzinger konnte die Stasi nicht feststellen – was Stöhr nicht wundert: „Meines Erachtens war das eine klassische Kulturreise.“ Die Stasi registrierte zudem aufmerksam, dass auch die FDP-Grande-Dame Hildegard Hamm-Brücher in der Akademie auftrat und spionierte auch die Tagung „40 Jahre nach Kriegsende – Ende einer Feindschaft“ im Mai 1985 aus. Die Spitzel konnten aber von einer „sachlichen Atmosphäre“ berichten – auch das also kein Grund zur Aufregung.
Der letzte Eintrag in der Tutzinger Stasi-Akte stammt vom September 1989 – kurz vor dem Mauerfall. Wer die Spione waren, ist bis heute ungeklärt. PETER SCHIEBEL