V-Leute und Nazis in der Staatskanzlei

von Redaktion

Forschungsprojekt untersucht NS-Belastung und demokratische Kultur bayerischer Ministerien

VON DIRK WALTER

München – Während die NS-Aufarbeitung auf Bundesebene weit vorangeschritten ist, zu fast jedem Bundesministerium eine solide Studie über die Verwendung NS-belasteter Beamte nach 1945 vorliegt, ist der Forschungsstand auf Länderebene weitaus bescheidener. In Bayern indes wurden 2017 Forschungen über „Demokratische Kultur und NS-Vergangenheit in Bayern“ angestoßen – es ist, nach „Bayern in der NS-Zeit“ und „Bayern in der Bundesrepublik“ das dritte große Bayern-Forschungsprojekt des Münchner Instituts für Zeitgeschichte.

Jetzt liegt die erste Studie vor: In „Hüter des Freistaats“ widmet sich der Historiker Rick Tazelaar intensiv dem schwierigen Start der Staatskanzlei nach dem Kriegsende. Wo heute eine bayerische Verwaltungselite schaltet und waltet, wirkte früher manch Beamter mit trüber Vergangenheit.

Tazelaar hat herausgefunden, dass die „Organisation Gehlen“, Vorläufer des Bundesnachrichtendienstes (BND) und benannt nach ihrem Gründer Reinhard Gehlen, in der Bayerischen Staatskanzlei V-Leute platzierte. Seit Februar 1949 berichtete Hans Schwarzmann, persönlicher Referent von Staatskanzlei-Chef Anton Pfeiffer, an „Pullach“ über Interna. Noch einen zweiten V-Mann in der Staatskanzlei kann der Historiker namentlich nennen: Der Referatsleiter und ehemalige Diplomat Hans-Heinrich Herwarth von Bittenfeld war unter dem Decknamen „Onkel Johnny“ ein früher Unterstützer der Organisation Gehlen und lieferte Informationen. Dabei war wohl allen bewusst, dass die von Gehlen ungeniert betriebene Inlandsspionage illegal war – seine Organisation in Pullach war eigentlich auf das Ausland beschränkt. Verkompliziert wurde die Lage dadurch, dass auch Bayerns Ministerpräsident Hans Ehard (CSU) „ein enges Verhältnis zu Gehlen“ pflegte und von diesem geheime Übersichten mit „innenpolitischen Informationen“ erhielt – also etwa über politische Parteien, Gewerkschaften oder die Kirchen. Später sollte Gehlen, wie vor einigen Jahren nachgewiesen wurde, sogar die Bundesspitze der SPD planmäßig ausforschen und mit den Informationen Bundeskanzler Adenauer füttern. So weit ging er in den Anfangsjahren in Bayern offenbar nicht.

Die BND-Verstrickungen sind nur eine Erkenntnis der Studie. Historiker Tazelaar geht vor allem der Frage nach, wie die Staatskanzlei mit NS-belasteten Beamten umging und bietet dazu sehr differenzierte Antworten. Der erste Ministerpräsident Fritz Schäffer scherte sich wenig um das Problem und stolperte – er musste sein Amt auf Druck der US-Besatzungsbehörde räumen. Sein Nachfolger Wilhelm Hoegner (SPD) ging rigoroser vor und verabschiedete am 9. November 1945 eine strenge Verordnung („Lex Hoegner“), die die Beschäftigung aller Personen ausschloss, die jemals Mitglied in der NSDAP, SA oder SS gewesen waren. Die individuelle NS-Belastung besaß „in dieser frühen Phase durchaus öffentliches Skandalisierungspotenzial“, stellt der Leiter des Gesamtprojekts, Andreas Wirsching, fest.

Als Hoegner Ende 1946 nach der für die CSU siegreichen Landtagswahl sein Amt für Hans Ehard (CSU) räumen musste, verlor die Anordnung aber wieder an Bedeutung. Auch in der Staatskanzlei – wie wahrscheinlich in fast jeder deutschen Behörde – gab es problematische Karrieristen, wie Historiker Tazelaar am Beispiel von Fritz Baer nachweist. Dieser stieß 1946 zur Staatskanzlei und stieg bis zum Leiter dieser Behörde auf – obwohl er sich in der NS-Zeit als williger Finanzbeamter bei der Enteignung von Juden gezeigt hatte. Und das ist nur ein Beispiel.

Doch auch solche Beamte passten sich an, arbeiteten effizient, gewissermaßen opportunistisch und ohne dass sich ihre frühere NS-Belastung auf die neue Tätigkeit ausgewirkt hätte. Die Grund-Idee, die alle Spitzenbeamte jetzt einte, war die Wiederbelebung der tradierten bayerischen Staatlichkeit. Der bayerische Staat hatte nach dieser Sichtweise von 1933 bis 1945 infolge der Gleichschaltung der Nazis schlicht nicht existiert. Der Nationalsozialismus wurde als etwas „Außerbayerisches“, „Preußisches“ abgetrennt. Nun ging es um so stärker darum, „Bayern nicht in einem deutschen Einheitsstaat verschwinden zu lassen“, wie es Hoegner ausdrückte. Die Staatskanzlei wurde dabei, wie der Historiker urteilt, „zu einer effektiven, stabilen Schaltzentrale“, die das Bild Bayerns im Bund maßgeblich prägte. Und im Grunde ist das ja bis heute so.

Rick Tazelaar

Hüter des Freistaats. Das Führungspersonal der Bayerischen Staatskanzlei zwischen Nationalsozialismus und Nachkriegsdemokratie, 418 S., Verlag De Gruyter, 65,99 Euro

Die „bayerische Staatlichkeit“ war die Leitidee – auch alte Nazis passten sich an

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