Rita Gabler leitet in Erding das Sophienhospiz. Vorher hat sie in Krankenhäusern und der Hebammenschule gearbeitet. Die 61-Jährige kennt die Pflege am Anfang und am Ende des Lebens – und brennt für ihren Beruf. Doch vielen ihrer Kollegen wirft sie vor, zu viel zu jammern und zu wenig Haltung zu zeigen. Sie sagt: Die Pflegenden hätten es in der Hand, das System zu verändern.
Sie arbeiten seit 42 Jahren in der Pflege. Würden Sie sich heute noch einmal für den Beruf entscheiden?
Ja, immer wieder. In keinem anderen Beruf bewegt man sich in einem so sensiblen zwischenmenschlichen Bereich. Es verändert einen, wenn man sich emotional berühren lässt. Oft heißt es, man müsse als Pflegekraft professionellen Abstand halten. Das sehe ich nicht so. Wenn man sich einlässt auf die innigen Momente mit den Patienten, brennt man nicht aus, sondern entwickelt sich persönlich weiter.
Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie hören, dass Pflegekräfte über ihren Berufsalltag klagen?
Dass sie größtenteils selbst an dieser Misere schuld sind. Sie hätten es in der Hand, etwas zu verändern. Unser Gesundheitssystem ist korrupt, es geht vor allem darum, möglichst viel Geld zu verdienen. Wenn die Pflegekräfte dieses System boykottieren würden, käme keine Klinik und kein Pflegeheim auch nur einen Tag zurecht. Aber diejenigen, denen das bewusst sein müsste, sprechen von Abhängigkeit, schlechter Bezahlung und unerträglichen Arbeitsbedingungen, die ihnen auferlegt werden. Anstatt aufzustehen und einzufordern, was nötig ist, schweigen sie lieber und decken weiter ein krankes System, das kurz vor dem Kollaps steht. Sie sind dem System nicht ausgeliefert, sondern können es aktiv mitgestalten – wenn sie sich solidarisieren.
Welche Reaktionen bekommen Sie von Pflegekräften, wenn Sie mehr Haltung fordern? Gibt es Anfeindungen?
Ich erlebe seit 40 Jahren, wie sich die Pflege in ihrem Leid suhlt. Und wie gute Pflegekräfte ausgegrenzt oder gemobbt werden, wenn sie engagierter oder mutiger sind als andere. Ich bin Krankenschwester mit Intensivstation-Erfahrung und war lange Lehrerin an einer Hebammenschule. Hier im Kreis Erding ist es mir mit meinen ärztlichen und pflegerischen Kollegen gelungen, eine sehr gute Palliativversorgung aufzubauen. Weil mir das Thema wichtig war und ich mich dafür stark gemacht habe. Es war immer ein Miteinander, nie ein Gegeneinander.
Was bedeutet gute Pflege für Sie?
Gute Pflege ist mehr als ein Versorgen. Es ist ein in Beziehung treten. Gute Pflege hat nichts mit persönlicher Aufopferung zu tun. Viel mehr mit der Haltung, für sich und andere einzustehen.
Was machen Sie im Sophienhospiz anders als andere Pflegeeinrichtungen?
Unser Sophienhospiz ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die aus einer Familienstiftung hervorgegangen ist. Es dürfen also keine Gewinne erzielt werden. Die Kranken- und Pflegekassen übernehmen 95 Prozent der Kosten für den Aufenthalt, der Rest muss über Spenden finanziert werden. Damit sind wir für gewinnorientierte Unternehmen uninteressant und vor deren Zugriffen geschützt. Wir sind also nur uns selbst verpflichtet. Pflegekräfte können hier ohne Zeitdruck arbeiten. Meine Mitarbeiter sind die Seele dieses Hauses und sie liegen mir genauso am Herzen wie die Patienten. Wenn sie zufrieden sind, wirkt sich das direkt auf die Versorgung aus. Ich habe zwei Kollegen, die eigentlich schon in Rente wären, aber aus Freude an dem Beruf und weil es ihnen hier gefällt, immer noch mitarbeiten.
Können sich Pflegekräfte nicht aussuchen, für wen und zu welchen Bedingungen sie arbeiten wollen?
Natürlich. Aber viele haben sich an das Jammern gewöhnt. Es ist anstrengend, die eigene Zukunft in die Hand zu nehmen und sich gegen das System zu stellen. Viele sind durch diesen inneren Konflikt, was moralisch richtig wäre und was ökonomisch verlangt wird, abgeklärt geworden – ich würde das als einen Cool-out bezeichnen. Sie halten alles von sich fern, was sie emotional aufwühlen könnte. Patienten sind dann zum Beispiel nur noch „das Magenkarzinom auf Zimmer drei“. Diese Form des Erkaltens können wir auch gesellschaftlich beobachten. Wie wäre es sonst erklärbar, dass uns das Leid vieler alter oder kranker Menschen nicht mehr berührt, obwohl wir alle wissen, wie der Alltag nicht in allen, aber in vielen Pflegeeinrichtungen aussieht?
Haben Sie Angst davor, irgendwann selbst auf Pflege angewiesen zu sein?
Es wäre für mich der absolute Albtraum. Ich hoffe, dass mir dieses Schicksal erspart bleibt. In unserem Pflegesystem wird tagtäglich gegen die Menschenwürde verstoßen.
Was müsste passieren?
Eine Umorientierung. Statt belastender Übertherapie am Lebensende, die viele Patienten gar nicht wollen, sollte mehr in eine gute Palliativversorgung für alle und in eine bessere Pflegeausbildung investiert werden.
Während der Pandemie ist viel für Pflegekräfte applaudiert worden. Wann würden Sie applaudieren?
Ich glaube, dass wir unser Gesundheitssystem in den nächsten Jahren komplett an die Wand fahren werden. Solange es immer nur um Geld geht, wird sich nichts zum Positiven verändern. Aber die Pflegenden könnten die Politik zum Handeln zwingen, wenn sie sich endlich aus der Opferrolle verabschieden und gemeinsam für ihre Belange und ihre Patienten einstehen würden. Sollte ihnen das gelingen, dann würde ich applaudieren.
Interview: Katrin Woitsch