München – Denise Hutter fährt mit dem Aufzug ins Untergeschoss eines Gebäudes nahe dem Münchner Ostbahnhof. Durch einen Keller mit grauen Betonwänden führt der Weg in ihren Trainingsraum. Dort angekommen, zieht sich die 24-Jährige eine weiße Weste, Jacke und Handschuhe über. Ihren Kopf versteckt die zierliche Frau mit den dunklen Haaren unter einer Metallmaske. Fehlt nur noch ihre Waffe, der Degen – und schon könnte das Fechttraining losgehen. Könnte, wenn Denise Hutter eine Standfechterin wäre. Das ist sie nicht. Sie sitzt im Rollstuhl. Nach dem Fertigmachen fährt sie zu einem Schienensystem, auf dem zwei Rollstühle stehen. Denise Hutter hievt sich hinüber, greift nach den Verankerungen links und rechts des Stuhls und hängt sie an den Rädern ein. Jetzt kann ihr Training losgehen.
Auf den Rollstuhl angewiesen ist die 24-Jährige seit Dezember 2020. Es passiert in einer ganz alltäglichen Situation: Denise Hutter will daheim nur die Treppe runtergehen. Dabei stürzt sie. Schwer. So schwer, dass ihre Beine seitdem gelähmt sind. „Ganz verarbeitet habe ich das immer noch nicht“, erklärt sie. Verständlich. Doch Hutter lässt sich nicht unterkriegen – eine Kämpferin war sie schon immer, ja, musste sie sein. Neben der Lähmung steht in ihrer Krankenakte auch Asperger-Autismus – eine Kontakt- und Kommunikationsstörung. „Ich habe mich immer schon anders gefühlt. Fast wie ein Außerirdischer.“ Zu schaffen macht ihr häufig ein fehlender Reizfilter. Alle Umgebungsgeräusche klingen nahezu gleich laut. „Das Ticken der Uhr zum Beispiel.“ Viele nehmen das gar nicht wahr, doch für sie ist es ähnlich laut wie eine Bundesstraße.
Zum Rollstuhlfechten ist Hutter durch Zufall gekommen. Nach ihrem Unfall fährt sie regelmäßig mit einem kleinen Bus zur Reha. Eines Tages sitzt ein Mann neben ihr, der sie plötzlich fragt: „Magst du mal Rollstuhlfechten ausprobieren?“ Er heißt Dominik Nagel – und ist Trainer beim Fecht-Club Gröbenzell. Denise Hutter weiß nicht so recht, was sie sagen soll – vom Rollstuhlfechten hatte sie noch nie gehört. Nagel erzählt weiter, spricht von Meisterschaften und sogar von den Paralympics. Hutters Ehrgeiz ist geweckt.
Ein paar Monate nach ihrem Unfall hält sie zum ersten Mal den Degen in der Hand. Schnell entpuppt sie sich als Naturtalent. Ihr aktueller Trainer Marc Münster sagt: „Für ihren Grad der Behinderung hat sie eine außerordentliche Fitness.“ Was wohl daran liegt, dass Denise Hutter schon vor ihrem Unfall eine wahre Sportskanone war – sie spielte Fußball, Tennis und machte Judo. Und sie hat noch eine Stärke: Sie lernt wahnsinnig schnell. „Andere Fechter brauchen Wochen oder Monate, Denise braucht zwei Trainingsstunden“, so Münster. Dieses Talent, Informationen schnell aufzunehmen und umzusetzen, ist typisch für Asperger-Betroffene. Und so fand Denise Hutter mitten in einer schweren Zeit etwas, bei dem ihre Schwächen plötzlich Stärken waren.
Im Sport ist Talent oft nur die halbe Miete – harte Arbeit gehört auch dazu. Fünf Tage die Woche trainiert Hutter in den Räumen des Fechtclubs München. Festgezurrt im Schienensystem, sitzt sie ihrem Trainer gegenüber. En garde – das Training kann losgehen. Münster klopft kurz auf unterschiedliche Stellen im Kopf- und Oberkörperbereich, woraufhin Hutter dieser Stelle mit ihrem Degen einen Schlag versetzt. Blitzschnell geht das Ganze hin und her, man kommt kaum mit den Augen hinterher.
Sparringspartner, die ebenfalls im Rollstuhl sitzen und auf dem gleichen Niveau wie Hutter fechten, gibt es in München nicht. Deshalb muss oft ein Standfechter aushelfen. Auch daheim ist Denise Hutter fleißig – sie baut mit Hanteln, Therabändern und Medizinbällen Muckis auf. Die braucht sie auch, denn beim Rollstuhlfechten gehen alle Bewegungen vom Oberkörper aus. Und der muss die ganze Belastung aushalten können. Ganz schön viel Zeit nimmt das Training also in Anspruch – ihr Psychologie-Fernstudium vernachlässigt Hutter aber nicht.
Dass sich das Training auszahlt, zeigt ein Blick auf Hutters Erfolgsbilanz. Zur Erinnerung: Sie betreibt den Sport erst seit rund zweieinhalb Jahren. Doch die 24-Jährige kann bereits mehrere bayerische Meistertitel, einen deutschen Meistertitel, einen dritten Platz beim Weltcup und einen starken sechsten Rang bei der Weltmeisterschaft im vergangenen Jahr verbuchen. Viele Erfolge – aber Denise Hutter ist keine, die damit angibt. Bescheiden zählt sie ihre Titel auf, als wären diese nichts Besonderes. Um Aufmerksamkeit geht es ihr nicht. Zielstrebig denkt sie lieber an die nächste sportliche Herausforderung. Und das ist die Europameisterschaft im März in Paris – mindestens eine so gute Platzierung wie bei der WM will sie dabei erreichen.
Für die Paralympics in diesem Jahr fühlt sich Hutter noch nicht fit genug. Denn die 24-Jährige hat sich Ende Oktober einen Arm gebrochen. Aber bei den Paralympics 2028 in Los Angeles möchte sie dabei sein. Die Ziele, die sie bei allen Wettkämpfen verfolgt, sind nicht nur Siege und Medaillen. Denise Hutter möchte auch die Bekanntheit ihrer Sportart, die noch eine absolute Nische ist, steigern: „Schön wär, wenn es mehr Rollstuhlfechter gäbe.“