Lachen – Fritz Kaiser fährt mit seinem Schlepper auf den Hof. Hinten hat er zwei schwarze Mülltonnen angeschnallt. Damit die Müllabfuhr nicht bis zu seinem Einödhof in Albishofen im Unterallgäu fahren muss, nimmt er ihnen die Arbeit ab. „Hier kann man so schlecht wenden“, sagt er in seinem allgäuerischen Dialekt. Dabei hat er sein blaues Klemmbrett mit Papier und Stift. „Das ist mein Utensil“, sagt der 72-Jährige. Kaiser hat immer etwas zum Schreiben dabei. Denn auf seinem Hof passiert nichts, ohne dass es dokumentiert wird.
Kaiser führt seit fast 60 Jahren ein Hof-Tagebuch. Im Oktober 1965, mit 14 Jahren, verfasste er seinen ersten Eintrag. Seither schreibt er jeden Abend in sein Tagebuch. Seine knapp 60 Bücher bewahrt er in einem Regal in seinem Büro auf. Anfangs waren es nur kurze Kommentare, später wurden die Einträge detaillierter. „Teils sonnig, bewölkt und leichter Wind“, lautete einer der ersten Einträge am 17. September 1967. In seinem Tagebuch hält der Landwirt fest, welche Arbeiten er auf dem Hof erledigt hat, wie viel geerntet wurde, wie das Wetter war oder was seine Frau gekocht hat.
Die Idee kam ihm während seiner Ausbildung. Kaiser führte freiwillig ein Berichtsheft. Er zieht ein Tagebuch aus dem Jahr 1967 aus dem Regal und schlägt eine beliebige Seite auf. „Berufsaufbauschule. Südseite Dach bei Brandmauer abgedeckt. Alte Dachlatten neu eingedeckt.“ Diese Aufgaben prägten den 22. September 1967 im Leben des Schülers.
Das Schreiben wurde seine Leidenschaft. „Ich bin Hobby-Chronist“, beschreibt er sich selbst. Das zeigt auch ein Blick in sein Büro: Der kleine Raum ist vollgestopft mit Ordnern, Zetteln und Büchern. Kaiser schreibt nicht nur Tagebuch, er sammelt Wahlergebnisse und Geburtstage und sortiert sie in chronologischer und alphabetischer Reihenfolge. Hier gibt es für alles einen Ordner. In seiner Sammlung finden sich auch Weidetagebücher, Listen über Jahresniederschläge, Durchschnittstemperaturen und Milchpreise. Seit den 80er-Jahren führt Kaiser Statistik. Und kann so einige Vergleiche zu früher ziehen. Wer wenn nicht er könnte beurteilen, ob früher wirklich alles besser war?
„Es war gemütlicher“, findet Kaiser. „Heute muss eine Arbeitskraft viel mehr leisten.“ Seinen Hof hat er bereits vor acht Jahren an seinen zweitältesten Sohn Ulrich übergeben. „Ich bin nur noch der Hauslmacher, ich mache die kleineren Aufgaben“, sagt er. Früher war er noch mehr unterwegs, wie ein Eintrag vom 20. Februar 1984 zeigt: „Alteisen von altem Ladewagen abgeladen. Mittags Sägemehl geholt 9,5 Kubikmeter für 87 DM.“
Die Familie führt den Betrieb mit 50 Milchkühen allein. Um über die Runden zu kommen, arbeitet Sohn Ulrich zusätzlich als Agrartechniker bei einem Zuchtverband. Zu Kaisers Jugend konnte die Familie dagegen leicht von 15 Kühen leben.
„Die Landwirtschaft war früher planbarer“, sagt Kaiser. Als er 1973 den Hof der Eltern übernahm, wusste er, dass seine Investitionen in den Stall für 20 bis 30 Jahre ausreichen würden. „Heute ist das anders.“ Neue Auflagen zwingen die Landwirte dazu, immer wieder neu zu investieren. Dass sich staatliche Subventionen ständig ändern, mache die Situation zusätzlich unkalkulierbar. Den Nachwuchs beneide er nicht, sagt Kaiser. „Wer heute noch in die Landwirtschaft einsteigt, trifft eine schwierige Entscheidung.“
Aber nicht alles ist heute schlechter. Zwar sei der Beruf in den vergangenen Jahrzehnten anspruchsvoller geworden, aber auch vielseitiger. „Der Landwirt hat heute viele Berufe: Tierarzt, Techniker, Ökonom“, sagt Kaiser, der sich 30 Jahre lang im Meisterprüfungsausschuss engagierte. Landwirte müssen heute spontaner sein – auch wegen des Wetters. Das zeigte sich aber auch früher schon unbeständig: „Sonnig, bewölkt, mild, Schneefall, Frost“, notierte Kaiser am 27. Januar 1972.
Kaiser holt einen Zettel aus einem Fach über seinem Schreibtisch. In seinem organisierten Chaos weiß er genau, wo er suchen muss. Die handgeschriebene Liste zeigt, dass die Temperatur in Lachen in den vergangenen Jahrzehnten um ein Grad anstieg. Schwankungen gab es schon immer, sagt er, auffällig sei aber, dass sie immer mehr zunehmen. Früher war das Wetter beständiger. Durch die kurzen Winter können seine Kühe heute acht statt sechs Monate auf der Weide stehen. Dafür muss Kaiser in sehr trockenen Phasen zufüttern.
Trotz seines Hobbys lebt er nicht in der Vergangenheit. Für die Zukunft wünscht er sich, dass sein Beruf wieder mehr Wertschätzung erfährt. Zum Beispiel, indem Milch und Fleisch fairer bezahlt werden. Dafür steht der Landwirt auch ein: Am 10. Januar beteiligte er sich mit 15 Schleppern an einer Demofahrt nach Memmingen. Natürlich hat Kaiser das in seinem Tagebuch festgehalten.