Das große Netzwerk der Nachbarn

von Redaktion

VON KATRIN WOITSCH

München – Inger Zahrenhusen ist schon ihr ganzes Leben lang auf einen Rollstuhl angewiesen. Sie hat ihren Alltag trotz der Einschränkung im Griff. Aber manchmal geht es nicht ohne Hilfe. Zum Beispiel wenn ein Paket kommt und sie nicht zu Hause ist. Neulich hat ihre Postfiliale geschlossen. „Es gibt jetzt im Umkreis von anderthalb Kilometern rund um meine Wohnung keine barrierefreie Post mehr“, sagt sie. Ohne Helfer sind die Postschalter nun unerreichbar für sie. Wenn sie ihr Bett beziehen oder den Kleiderschrank ausmisten will, braucht sie ebenfalls Unterstützung. „Bei vielen Dingen helfen mir meine Eltern“, sagt die 45-jährige Münchnerin. Aber manchmal wünscht sie sich, mit ihnen einfach Zeit zu verbringen – ohne dass die Wäsche gemacht werden oder etwas im Haushalt erledigt werden muss. „Ich wollte sie entlasten.“ Deshalb hat sich Zahrenhusen vor gut zwei Jahren bei „Dein Nachbar“ angemeldet. Der Verein hat in München ein digitales Netzwerk aufgebaut. Hilfsbedürftige und Ehrenamtliche finden dort zusammen.

Inger Zahrenhusen hat auf der Plattform Christine Torghele kennengelernt. Die 55-Jährige wollte sich sozial engagieren. Sie hatte früher schon einmal eine Seniorin im Alltag unterstützt. Nun entdeckte sie, dass in ihrer direkten Nachbarschaft jemand Unterstützung sucht. Die beiden Frauen trafen sich – und verstanden sich sofort. Seitdem kommt Torghele alle zwei Wochen bei Inger Zahrenhusen vorbei. Und aus der Alltagshilfe ist längst eine Freundschaft geworden. Heute wollen sie die Wohnung mit Osterschmuck dekorieren. Christine Torghele holt die Schachtel damit aus dem obersten Fach des Schranks. Dann hilft sie Inger dabei, die bemalten Eier und Hasen aufzuhängen. Anschließend werden auf dem Balkon die Chilis eingepflanzt, die die 45-Jährige gezogen hat.

Genau so hatte Thomas Oeben sich das vorgestellt, als er 2015 „Dein Nachbar“ gründete. Der Verein unterstützt Senioren, Menschen mit Behinderung und pflegende Angehörige. Oeben hat ein Portal aufgebaut, in dem sich Helfer und Hilfesuchende registrieren und ihre Vorstellungen eingeben können. Er ist überzeugt, dass Netzwerke wie dieses immer wichtiger werden. Das kann er mit Zahlen erklären: 7,9 Millionen Menschen in Deutschland haben eine schwere Behinderung, 4,9 Millionen sind auf Pflege angewiesen. Und über 80 Prozent von ihnen werden zu Hause von den Angehörigen gepflegt, sagt Oeben. „Im Schnitt betreuen sie pro Woche 43 Stunden – das ist für viele neben ihrer Arbeit ein zweiter Vollzeitjob.“

Bis 2030 wird die Zahl der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland um eine Million steigen. Gleichzeitig fehlen rund 500 000 Pflegekräfte. Um gegen die Versorgungslücke anzukämpfen, brauche es Netzwerke wie „Dein Nachbar“, ist Oeben überzeugt. „Viele Menschen sind bereit zu helfen, wenn die Aufgabe für sie interessant ist und der Aufwand überschaubar“, sagt er. Auf www.deinnachbar.de können sich Interessierte registrieren und Zeitfenster, Tätigkeiten und Umkreis angeben, in dem sie sich einbringen möchten. Es gibt ein Aufnahmegespräch, die Helfer werden durch Fachkräfte geschult und vorbereitet für die Einsätze. Sie müssen ein Führungszeugnis vorlegen. Dann bekommen sie über die Helfer-App Einsatzmöglichkeiten angezeigt, die zu ihren Kriterien passen. Hilfesuchende wählen einen Bewerber aus und können Kontakt aufnehmen, um sich kennenlernen. Wenn die Chemie zwischen ihnen stimmt, entsteht eine Nachbarschaftshilfe wie bei Inger Zahrenhusen und Christine Torghele. Und diese Hilfe können sich Hilfsbedürftige nun auch spontan organisieren, sie können ihre Anfragen auch am Wochenende im Portal eingeben und erhalten passgenaue Vorschläge.

Knapp 300 Helfer sind derzeit aktiv. Um Menschen mit Hilfebedarf mehr Teilhabe zu ermöglichen, wünscht sich Thomas Oeben, dass das Netzwerk noch engmaschiger wird. Bisher deckt der Verein das Münchner Stadtgebiet ab. In Kooperationen mit Kommunen würde der Verein aber auch in anderen Regionen tätig werden.

Helfer bekommen für ihren Einsatz eine steuerfreie Aufwandsentschädigung von 8 bis 12 Euro pro Stunde. Hilfesuchende ohne Pflegegrad kostet die Unterstützung 25 Euro pro Stunde, mit Pflegegrad ist es so lange kostenlos, bis das monatliche Kontingent der Pflegekassen erschöpft ist. Das liegt bei dem niedrigsten Pflegegrad 1 bei 125 Euro und steigt schrittweise stark an. „Wir würden das Angebot gerne günstiger machen“, sagt Oeben. Dafür bräuchte der Verein aber noch mehr Spenden (IBAN 59 7002 0270 0015 5803 83).

Für Inger Zahrenhusen bedeutet der Kontakt zu Christine Torghele noch mehr als Hilfe im Alltag. „Es ist ein gutes Gefühl, dass es in der Nähe jemanden gibt, den ich anrufen kann, wenn’s mal brennt“, sagt sie. Unter den Helfern sind auch viele Senioren, erzählt Oeben. Die älteste ist 94, sie besucht einen Gleichaltrigen, hört zu, holt ihn aus der Einsamkeit. Davon profitieren beide, sagt Oeben. „Das Gefühl, gebraucht zu werden, tut vielen Menschen gut.“

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