München – Am 15. Oktober 1959 gegen 13 Uhr hörten zwei Anwohner des Hauses Kreittmayerstraße 7 in München-Maxvorstadt ungewöhnliche röchelnde Geräusche im Treppenhaus. Sie schauten nach – und fanden den Hausbewohner Stefan Popel nach Luft ringend auf dem Boden. Jede Hilfe kam zu spät: Auf dem Weg ins Krankenhaus verstarb der Mann.
Wie sich bald herausstellte, hatte der Verstorbene mit einer Tarnidentität in München gelebt: Stefan Popel war der Deckname für Stephan Bandera, jenen umstrittenen ukrainischen Nationalistenführer, der im Exil lebte und den jetzt ein vom KGB gedrungener Attentäter mittels Blausäure-Nebels, der aus einer Pistole versprüht wurde, gerichtet hatte.
Jetzt hat der Historiker Grzegorz Rossolinski-Liebe im Archiv des Bundesnachrichtendienstes eine Art Lebensbeichte des Attentäters gefunden und in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte (Heft 2/2024) auszugsweise publiziert. Der BND hatte das Dokument zuvor deklassifiziert, das heißt für die Forschung freigegeben. In der Haft beschrieb Bogdan Staschinski, der selbst Ukrainer war, in einem Dorf bei Lemberg aufwuchs und recht gut Deutsch sprach, auf 385 Seiten, wie er vom KGB engagiert wurde. Er ist Doppelmörder, hatte schon 1956 den ukrainischen Nationalisten Lew Rebet in München ermordet. „Mir schwinden für den Bruchteil einer Sekunde die Sinne“, beschreibt der Attentäter die Momente vor dem Mord an Bandera. „Ohne Nachzudenken hebe ich die rechte Hand in Richtung des Kopfes und drücke ab. Ein dumpfer Knall, ein Zurückweichen der Gestalt – glaube ich zu sehen – dann ziehe ich die Tür hinter mir zu und bin draußen.“
Seine Taten haben indes eine lange Vorgeschichte. Staschinski wurde langsam an die Mordaufträge herangeführt. Er hatte als Kind während des Zweiten Weltkriegs selbst miterlebt, wie ukrainische Nationalisten „Judengemetzel in unserem Bezirksstädtchen“ verübten. „Besonders wüteten dabei die ukrainischen Hilfspolizisten.“ Daher hatte Staschinski keine Sympathien für ukrainische Nationalisten. Doch Staschinski schloss sich dem KGB 1950/51 „nicht aus freien Stücken an“, betont Historiker Rossolinski-Liebe. Nach seinen Angaben wurde er erpresst, dass seine Eltern andernfalls nach Sibirien deportiert würden. Rasch stieg er auf, weil er in der damals von der Sowjetunion okkupierten Ukraine den Mörder des sowjet-treuen Schriftstellers Jaroslaw Halan ausfindig machte. Es war ein ukrainischer Nationalist („begeistert erzählte er alle Einzelheiten“). Das war der erste Schritt, um ein KGB-Profi zu werden. Als polnischer Umsiedler getarnt reiste er nach Ost-, später auch nach West-Berlin, lernte Deutsch, heiratete. Das Ehepaar wurde nach Moskau beordert, dann wieder nach Berlin – ein unstetes Agentenleben, über das selbst seine Ehefrau lange nicht Bescheid wusste.
In Berlin übte Staschinski den Einsatz mit der Giftpistole – zunächst an einem Hund. Dann ermordete er Rebet und Bandera.
Als er eine Woche nach dem Attentat im Kino eine Sequenz mit der Beisetzung Banderas gesehen habe, setzte ein Umdenkungsprozess ein – so jedenfalls die Schilderung des Attentäters, die man glauben kann oder auch nicht. „Ich kam mir erbärmlich, gemein und verraten und verkauft vor.“ Damals habe er beschlossen, „nie wieder ein Attentat auszuführen“. Doch er nahm in Moskau noch den Rotbannerorden an und brauchte zwei Jahre, ehe er mit seiner Ehefrau – einige Monate vor dem Bau der Mauer – nach West-Berlin flüchtete und sich dort der Polizei stellte.
Bandera, sein Opfer, das er kaltblütig erledigte, ist umstritten. Er soll Antisemit und Faschist gewesen sein. Für viele Ukrainer ist er indes ein Held und Vorkämpfer für die Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Der frühere ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, selbst umstritten, zählt zu den Verehrern. Das Grab von Bandera auf dem Münchner Waldfriedhof ist stets blumengeschmückt, wird aber auch immer wieder verwüstet.
Attentäter Staschinski, Jahrgang 1931, dürfte mittlerweile tot sein. Er saß nach seiner Verurteilung nur vier Jahre in Haft, soll in dieser Zeit mehrere Sowjet-Agenten verraten haben. Nach der Freilassung Ende 1966 tauchte er, vermutlich ausgestattet mit einer Tarnidentität, auf Nimmerwiedersehen unter. Das Münchner Institut für Zeitgeschichte will die kompletten Memorien als Buch veröffentlichen.