München – Karl Gareis, ein Landtagsabgeordneter der linken USPD, hatte sich soeben an der Gartentüre vor seinem Wohnhaus an der Freystraße 1 in München- Schwabing von seinem Begleiter mit Handschlag verabschiedet. Da krachten gegen 23.30 Uhr zwei Mal zwei Salven. Gareis sackte zusammen – eine Kugel hatte den 31-jährigen ehemaligen Lehrer tödlich getroffen. Zwar wurde er noch ins nahe Schwabinger Krankenhaus geschafft. Dort jedoch starb er am 10. Juni 1921 gegen zwei Uhr früh.
Der Mord an dem linken Politiker schockierte viele in der aufgeheizten Atmosphäre des jungen bayerischen Freistaats. Die Tat rief bittere Erinnerungen an das tödliche Attentat auf Bayerns ersten demokratisch gesinnten Ministerpräsidenten Kurt Eisner im Februar 1919 wach. Und erst im Oktober 1920 hatten unbekannte Täter, offensichtlich Rechtsextremisten, das Dienstmädchen Maria Sandmayer im Forstenrieder Park erwürgt. Gut ein halbes Jahr später jetzt der nächste bestialische Anschlag – München kam nicht zur Ruhe!
Gewerkschaften riefen einen dreitägigen Generalstreik aus. Andere empfanden klammheimliche Freude, war Gareis doch in konservativen und nationalistischen Kreisen regelrecht verhasst. Gareis, der aus Regensburg stammte, hatte Verbindungen der Münchner Polizei zu rechtsradikalen Umtrieben zu seinem Spezialthema gemacht – auf sein Betreiben gab es dazu im Landtag sogar einen Untersuchungsausschuss. Unter denjenigen, die Gareis anfeindeten, war auch Ludwig Thoma, der im „Miesbacher Anzeiger“ Gareis noch kurz vor dem Anschlag als der „typische Geisteskranke aus der Umsturzzeit“ geschmäht hatte. Die Münchner Polizei, das zeigt die über 700 Seiten starke Ermittlungsakte im Staatsarchiv, ging vielen Hinweisen nach – unsinnigen ebenso wie Erfolg versprechenden.
Gareis hatte in den Stunden vor dem Mord im Mathäser-Festsaal einen Vortrag zum Thema „Die drohende Verkirchlichung der Schule“ gehalten, der von 900 Zuhörern besucht wurde. „Stimmung: sehr lebhaft“, hielt ein Polizist, der die Versammlung überwachte, im Protokoll fest. Er erwähnte auch, dass in der Diskussion der später als Nazi-Gegner berühmt gewordene Jesuitenpater Rupert Mayer als Gegenredner auftrat. Mayer wurde von der Polizei befragt, aber vergebens.
Nachdem der Hilfsarbeiter Andreas Seraing, der den Politiker nach der Abendveranstaltung nach Hause begleitet hatte, nur eine vage Täterbeschreibung geben konnte, lief die Polizei jedem noch so abenteuerlichen Hinweis nach. So gingen anonyme Briefe ein, die Gareis eine Affäre mit einer verheirateten Frau andichten wollten – war er Opfer einer Eifersuchtsaffäre? Das ließ sich nicht erhärten. Ein Mann aus Bonn bot an, den Mörder mit Telepathie zu finden. Im August 1921 suchten die Polizisten sogar eine Hellseherin in Nürnberg auf – natürlich ohne Ergebnis.
Die meisten Spuren, denen die Polizei nachging, wiesen in Richtung Rechtsradikalismus. So durchsuchte die Polizei nach einem Hinweis das Zimmer zweier Brüder, die zwar offensichtlich Anhänger der damals noch jungen NSDAP waren, aber mit dem Mord auch nichts zu tun hatten. Andere Indizien wiesen auf eine Beteiligung des Bund Oberland hin – ein militantes Freikorps, deren Mitglieder die Republik und ihre Anhänger leidenschaftlich hassten. Vage Spuren führten auch zum früheren Leutnant zur See Heinrich Tillessen, der zusammen mit einem Komplizen bald nach dem Gareis-Mord den vormaligen Reichsfinanzministers Matthias Erzberger im Schwarzwald erschossen hatte (am 26. August 1921) und dann nach Bayern geflohen war. Tillessen pflegte enge Verbindungen nach München. Er wurde erst in den 1950er-Jahren für den Erzberger-Mord verurteilt. Der Fall Gareis kam dabei nicht zur Sprache.
Letztlich verliefen alle Spuren im Sande – der Mörder wurde nie gefunden. Auch eine ausgesetzte Belohnung von 30 000 Reichsmark half nicht weiter. Die Münchner Historikerin Ulrike Hofmann, die den Fall in ihrer Doktorarbeit dargestellt hat, hält den Mord für „ein politisches Verbrechen von rechts“ – der letzte Beweis jedoch fehlt.
Das Haus, vor dem Gareis erschossen wurde (er wohnte im dritten Stock), gibt es noch – es ist baulich stark verändert, die wuchtige Haustürpforte ist aber noch dieselbe. An Gareis indes erinnert in München nichts und niemand. Es gibt zwar eine Gareisstraße, die aber würdigt einen gleichnamigen Juristen. Der langjährige SPD-Politiker Franz Maget, der sich intensiv mit Gareis beschäftigt hat, sagt: „Eine Erinnerungstafel an dem Haus wäre angemessen.“