Das Leid hinter den Klostermauern

von Redaktion

Jahrzehntelang hat Frank Neumann (Name geändert) geschwiegen über das, was ihm in St. Ottilien widerfahren ist. Als er sein Schweigen schließlich brach, speiste ihn das Kloster mit 2000 Euro ab. Jetzt wühlt ein prominenter Todesfall alles wieder auf.

Abtprimas Notker Wolf starb im April. © dpa

Will Aufarbeitung: Frank Neumann (Name geändert).

Internat und Schule von St. Ottilien im Kreis Landsberg gelten in den 1970er-Jahren als Kaderschmiede für die bayerische Elite. Doch auch hier kam es zu Missbrauchs-Fällen. © IMAGO

St. Ottilien – Als Frank Neumann, der eigentlich anders heißt, aber anonym bleiben möchte, den Nachruf über Notker Wolf liest, kommt alles in ihm hoch. Der „rockende Mönch“ von St. Ottilien, der schon mit Deep Purple auf der Bühne stand, starb am 2. April mit 83 Jahren. Doch während andere eines großen bayerischen Katholiken gedenken, ist Neumann plötzlich wieder zwölf. Er geht an der Hand von Bruder Walto durch den langen, breiten Gang des Benediktinerklosters St. Ottilien. Zehn, vielleicht fünfzehn Mönche kommen den beiden entgegen. Ihre Blicke wird Frank Neumann niemals vergessen.

Frank Neumann ist in den 1970er-Jahren Schüler im Internat und Gymnasium des Klosters St. Ottilien, das damals als Kaderschmiede gilt. Die Klausur ist das Innerste eines Klosters. Nicht mal Angehörige der Ordensbrüder haben dort Zugang. Sie ist von einer drei Meter hohen Steinmauer umgeben. Für die Internatsschüler ist das, was dahinter liegt, ein großes Mysterium. Einmal klettern Frank und seine Mitschüler auf einen Baum, um zu schauen, ob die Mönche einen Swimmingpool in ihrem Garten haben. Dass ein Schüler seinen Weg ins Innerste des Klosters findet – undenkbar.

Wer zu spät kommt, dem drohen harte Strafen

Trotzdem führt Bruder Walto den zwölfjährigen Frank am Klosterpförtner und an seinen Brüdern vorbei. Keiner der Mönche greift ein. Einige lächeln süffisant, andere schauen mitleidig, wenige beschämt. „An den Blicken habe ich gemerkt, dass da gerade etwas Schlimmes passiert“, erinnert sich Neumann.

Bruder Walto leitet mit seinem allzeit gütigen Lächeln die Krankenabteilung des Internats. Besonders interessant ist er für Schüler, die zu lange draußen gespielt haben. Die Strafen fürs Zuspätkommen, können drakonisch sein: Ein Präfekt des Klosters ist dafür bekannt, dass er neben Schlägen die Schüler an den Ohren packt und sie vom Boden anhebt. Um dem zu entkommen, erfinden die Schüler Wehwehchen. Bruder Walto reibt sie ausführlich mit Salbe ein. Das ist der Preis für strafloses Zuspätkommen.

Bei dem zwölfjährigen Frank geht Walto weiter. Er macht dem Bub das Angebot, ihm etwas im Kloster zu zeigen. Frank packt die kindliche Neugier. Er wäre der einzige Schüler, der es jemals hinter die große Mauer ins Geheimste der Brüder geschafft hat. Als die beiden losgehen, malt sich Frank aus, wie er später mit dem Abenteuer bei seinen Freunden angibt.

Lange bevor Bruder Walto seinem Opfer ein Schweigegelübde abnimmt und ihn mit Schokolade belohnt, ist Frank klar: Er wird mit niemandem jemals darüber reden können, was in Waltos Zelle passiert ist. Er begräbt die Erlebnisse ganz tief und schweigt für über 30 Jahre.

2010 kommt zum ersten Mal alles hoch. Als Neumann einen Artikel über die Missbrauchsfälle in den bayerischen Klosterinternaten liest. Dabei wird auch St. Ottilien erwähnt. Opfer sollen sich melden, steht da. Neumann beschließt, sein Schweigen zu brechen. „Ich wollte mich selbst davon befreien.“ Und Neumann will helfen, dazu beitragen, „dass niemand mehr wegschaut“. Vor allem aber will er ein öffentliches Schuldeingeständnis von den damals Verantwortlichen.

Stattdessen bekommt Neumann Worte des Bedauerns durch den 2010 amtierenden Erzabt Jeremias Schröder und einen Termin bei einer Psychologin. Neumann ist wütend, fühlt sich ein zweites Mal vom Benediktinerorden und der Kirche verraten. Trotzdem hakt er nach. Immer wieder. Doch je mehr die öffentliche Empörung vom Frühjahr 2010 abebbt, desto schmallippiger werden die Antworten aus St. Ottilien. Als er nicht locker lässt, bieten die Brüder ihm 2000 Euro Entschädigung an. Man könne ja gerne noch mal einen Schnaps miteinander trinken, habe ein damaliger Verantwortlicher zu Neumann gesagt, damit wieder alles gut ist. Die Fälle seien schließlich lange verjährt, Täter und Verantwortliche lange tot.

Letzteres stimmt so nicht ganz. Ein Verantwortlicher lebt 2011 noch und ist inzwischen sogar Abtprimas, also der oberste Sprecher aller Benediktiner weltweit. Zwar war Notker Wolf zum Tatzeitpunkt noch nicht Abt, aber er war eine Vertrauensperson für den Buben Neumann und für dessen Mutter, die auch erst 2010 von dem sexuellen Missbrauch an ihrem Sohn erfährt. Neumann lässt Notker Wolf über einen Anwalt anschreiben. Er bittet um Stellungnahme zu den Taten von Bruder Walto unter den Augen seiner Mitbrüder. Frank Neumann will von Notker Wolf wissen, ob er die 2000 Euro für angemessen hält.

Doch Wolf wäscht seine Hände in Unschuld: „Meinerseits kann ich nur versichern“, schreibt der Abtprimas in einem Brief an Neumanns Anwalt, „dass derlei Verhalten unseres verstorbenen Krankenbruders Walto nie zu meinen Ohren gelangt ist”. Vieles bleibe auch einem Abt verborgen. Juristisch könne er nichts tun, schließt Wolf und verweist auf die aktuelle Klosterleitung. Dass er nicht einmal darüber nachdenkt, mit Neumann das Gespräch zu suchen, „das nehme ich ihm bis nach seinem Tod noch übel“.

Vom Kloster gab es nach 2010 nie einen öffentlichen Bericht über die Verbrechen. Auf Nachfrage gibt es aber Zahlen: „Insgesamt haben sich in St. Ottilien 25 Betroffene von Gewalt und sexuellem Missbrauch gemeldet.“ In sieben Fällen habe sich der Verdacht nicht erhärtet: In zwei Fällen habe sich herausgestellt, dass es sich bei der Missbrauchsanschuldigung um eine sogenannte Übertragung handelte. Tatsächlich habe der Missbrauch aber in der eigenen Familie stattgefunden. Bei zwei Fällen gab es Ermittlungen der Polizei. Sie wurden ohne Ergebnis eingestellt.

Das Kloster zahlte in fünf Fällen Entschädigungen

Sechs Täter haben die Brüder in ihren Reihen durch die Opfer-Meldungen identifiziert. In fünf Fällen hat das Kloster nach eigenen Angaben Entschädigung gezahlt und psychologische Unterstützung angeboten. Die Frage, ob man 2000 Euro für eine angemessene Summe hält, lässt das Kloster auch 2024 unbeantwortet. 2016 wurde das Klosterinternat für immer geschlossen.

Frank Neumann ist ein erfolgreicher Geschäftsmann. Aber Nähe, körperlich wie emotional, ist seit jenem Gang durch die Klosterklausur ein schwieriges Thema. Warum er jetzt, rund 50 Jahre später, die Geschichte erzählt? Aus demselben Grund, aus dem er damals sein Schweigen gebrochen hat. Er will dazu beitragen, dass das, was ihm widerfahren ist, niemand anderem geschieht. Und daran erinnern, dass die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle nicht abgeschlossen ist.

Neumann will keine Ruhe geben. „Bis heute habe ich nicht das Gefühl, dass sich jemals auch nur irgendjemand von St. Ottilien für diesen sexuellen Missbrauch geschämt hat.“
MM

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