Die vielen Hürden vor der Wahl

von Redaktion

In wenigen Tagen wird das Europäische Parlament gewählt. Menschen mit Behinderung sind dabei nach wie vor oft auf Hilfe angewiesen. Denn viele Wahllokale sind noch immer nicht barrierefrei – und nicht alle Hilfen erreichen die Menschen, die sie bräuchten.

Mit einer Schablone können Blinde ohne Hilfe wählen. © Imago

Viele Wahllokale sind nicht barrierefrei: Markus Ertl hatte die Wahllokale in Lenggries schon bei der Landtagswahl unter die Lupe genommen. Vier von sieben waren nicht barrierefrei. © Privat

München – Seine Stimme für das Europäische Parlament wird Markus Ertl in diesem Jahr per Post abgeben. Weil er im Urlaub ist. Das findet er fast ein bisschen schade. Er geht gerne ins Wahllokal, meist zusammen mit seiner Frau und den Nachbarn. Danach gehen sie gerne essen. „So eine Wahl ist ja auch ein Event“, sagt er.

Die vergangenen Jahre gehörte zu diesem Event allerdings immer auch eine Portion Frust. Denn Ertl ist blind. Und viele Wahllokale sind nicht barrierefrei. Bei der Landtagswahl im Herbst waren in seiner Heimatgemeinde Lenggries im Kreis Bad Tölz-Wolfratshausen vier von sieben nicht ohne Barrieren. Ertl ist auch Inklusionsbotschafter. Er kämpft seit Jahren für eine geheime und gleiche Wahl für alle – so wie es im Grundgesetz steht. Doch die Realität ist leider anders. Auch dieses Jahr hätte er es wieder mit zwei nicht gekennzeichneten Stufen zu tun gehabt, berichtet er. Dass weiß er, weil er das Wahllokal gut kennt, es ist seine ehemalige Schule. Für viele andere, zum Beispiel Senioren, könnten diese Stufen riskant werden, betont er. Um Stürze zu vermeiden, werden die Wahlhelfer Tische als Absperrung davorstellen. „Es ist schon ein Bewusstsein für das Problem da“, bilanziert Ertl. Aber eben noch keine echte Barrierefreiheit.

Immerhin ist dieses Mal für Blinde eine geheime Wahl möglich. Weil es Schablonen mit Braille-Schrift gibt, die sie für die Wahlzettel benutzen können. Bei der Landtagswahl ging das in den meisten Regionen Bayerns nicht. Die Wahlzettel waren schlicht zu groß für Schablonen. Ohne die Hilfe seiner Frau hätte Ertl das Kreuzchen nicht machen können. Viele andere Blinde hatten vielleicht keine Vertrauensperson, sagt er.

Nicht nur wenn eine Wahl ansteht, ist der Frust über die vielen Barrieren groß. „Besonders, weil es oft heißt, ein Gebäude oder eine Internetseite wäre barrierefrei“, sagt Ertl. „Wenn man es sich dann anschaut, merkt man aber, dass das nicht stimmt. Die nicht markierten Stufen sind nur ein Beispiel. Türen, die sich zu schwer öffnen lassen oder zu kurze Handläufe an Treppen gebe es immer wieder. Bei der Sprachausgabe für Internetseite fehlen oft die Beschriftungen für Schaltflächen.

2017 bei der Bundestagswahl hatte Ertl sich die Mühe gemacht, alle Parteien anzuschreiben und um barrierefreie Wahlprogramme und Internetseiten zu bitten. Von diesem Ziel sind sie noch immer weit entfernt, berichtet er. „Selbst der Antrag auf Blindengeld oder für den Schwerbehindertenausweis ist nicht barrierefrei – das ist doch absurd“, ärgert er sich. Immer mal wieder hört er, dass Gebäude als barrierearm statt als barrierefrei bezeichnet werden. So was macht ihn wütend. „Barrierearm ist die kleine Schwester von Ausgrenzung“, sagt er.

Wahlprogramme oder Kandidatenvideos in einfacher Sprache sind seit einigen Jahren noch wichtiger geworden – denn durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts dürfen seit 2019 auch behinderte Menschen mit Vollbetreuung wählen. Für viele von ihnen wird es die erste Europawahl. „Viele Betroffene haben sich damals sehr über das Urteil gefreut, es ist ihnen sehr wichtig wählen zu dürfen“, erzählt Tim Geister, der 2019 noch in einem Wohnheim für Menschen mit geistiger Behinderung arbeitete und heute für die Münchner Lebenshilfe. Teilweise gebe es Info-Broschüren in leichter Sprache. Aber nicht immer sei sichergestellt, dass die Betroffenen auch davon erfahren.

Auch Holger Kiesel, der Behindertenbeauftragte der Staatsregierung, wünscht sich, dass Parteien in ihrem Wahlkampf aktiver auf Menschen mit Einschränkungen eingehen. Zum Beispiel, in dem sie in Heime gehen und dort in leichter Sprache über ihre Arbeit berichten. Auch auf vielen Internetseiten sieht er noch Nachholbedarf und viel Luft nach oben. „Davon würden letztlich alle Menschen profitieren“, betont er. Sein Eindruck ist, dass Politiker diese Wählergruppe oft scheuen. „Weil sie zu wenig über die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung wissen oder nicht einschätzen können, welche Fragen von ihnen kommen.“ Es handle sich aber um eine große Wählergruppe, betont Kiesel. Auf seiner Internetseite (www.behindertenbeauftragter.bayern.de) hat er Informationen in leichter Sprache und barrierefreie Erklärvideos bereitgestellt. „Das wird gut angenommen“, berichtet Kiesel, appelliert aber auch an die Betreuer der Menschen mit geistiger Behinderung. „Sie müssen dabei helfen, dass das Angebot die Betroffenen auch erreicht.“

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