KOLUMNE

VON SUSANNE BREIT-KESSLER Das junge Grundgesetz

von Redaktion

An der Münchner U-Bahn-Station Böhmerwaldplatz schaue ich mich fragend um. Eine junge Frau hilft mir. „Die Stuntz suchen Sie?“ Der Ort, zu dem ich will, ist offenbar wohlbekannt. Ich gehe, wie empfohlen, nach links, dann schnurstracks geradeaus, bis ich auf „die Stuntz“, eine Grund- und Mittelschule, treffe. Die Türen sind verschlossen, wohl aus Sicherheitsgründen. Man kann klingeln. Eine strahlende Rektorin, die in der Mittelschule fast nur Kinder mit Migrationshintergrund beherbergt, insgesamt 222, empfängt mich voller Herzlichkeit. Ach, solche Schulleiterinnen sind ein Segen….

Ich fühle mich in vergangene Zeiten versetzt. Und ich würde am liebsten den ganzen Tag bei ihr sitzen, selbst wenn ich etwas ausgefressen hätte. Aber ich werde in der Klasse 7b erwartet. Ich mache an diesem Vormittag mit bei dem gemeinsamen Projekt „München hören“ der Landeshauptstadt München (Zentrum für kommunales Bildungsmanagement) und dem BR. Schulklassen aller Jahrgangsstufen und Schultypen sowie Horte, Mittagsbetreuungen und Tagesheime können sich beteiligen.

Bei „München hören“ lernen Kinder und Jugendliche bei Profis von der Pike auf, wie man erstklassige Radiobeiträge macht. In diesem Jahr geht es um den 75. Geburtstag des Grundgesetzes und vor allem um Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Schüler und Schülerinnen der 7b sind von einem Mediencoach vorbereitet worden. Klassenlehrerin Natalia Zenkert, beschwingt und liebenswürdig wie die Rektorin, begleitet das Projekt. Schüler befragen mich mit Mikro in der Hand zum Artikel 1. Was er im Alltag bedeutet und ob er auch für Obdachlose gilt? Haben Strafgefangene Würde? Was ist mit Krebskranken in anderen Ländern, die kein Geld haben, um sich Medikamente zu kaufen? Wie hoch dürfen Mieten sein, um noch als menschenwürdig zu gelten? Haben Politiker bei ihren Entscheidungen die Menschenwürde im Kopf?

Ich bin froh, dass ich mich gründlich vorbereitet habe. Schon aus Sorge, mich vor den wissbegierigen Kids zu blamieren. Ich habe aber aus ganz anderen Gründen gut daran getan: Die Kinder dieser Mittelschule-Klasse sind hellwach und denken scharf nach. Sie haben ein Recht darauf, geachtet und respektiert zu werden. Für sie sollte einem keine Mühe zu groß sein.

Als die offiziellen Fragen gestellt sind, geht es erst richtig los. Jetzt fragen die Kinder spontan, was ich zur AfD sage, zur Wehrpflicht, wie ich Diktatur finde, ob Putin im Fall eines Sieges über die Ukraine in Europa „weitermacht“, ob man Sterbehilfe nicht ablehnen müsse, weil sie Menschen am Ende die Würde nimmt. Was ist mit der Würde von Kindern und armen Leuten? Schließlich noch, wie alt ich bin. Bevor ich antworten kann, ruft ein Junge: „60!“ Charmebolzen. Danke, liebe Stuntz. Es war mir eine Lehre und eine Ehre.

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