DAS PORTRÄT

Unvergessliche Tage mit meinem Vater

von Redaktion

Natalia Aleksieieva mit ihrem Vater Mykhailo.

Natalia Aleksieieva ist am 7. März 2022 aus Odessa nach München geflüchtet. Sie hat hier eine Wohnung und einen Job gefunden. In ihrer Kolumne berichtet die 29-Jährige über ihr neues Leben in Bayern und über die Nachrichten aus ihrer ukrainischen Heimat. Ihre Texte schreibt sie auf Deutsch.

Vor zwei Jahren und drei Monaten habe ich mein Zuhause in der Ukraine verlassen. Und endlich wurde einer meiner sehnlichsten Wünsche wahr – mein Vater kam zu Besuch nach Deutschland. Es war seine erste Reise nach Westeuropa in seinem ganzen Leben. Nun habe ich zusammen mit ihm Bayern für mich neu entdeckt. Es ist mir gelungen, meinem Vater so viele wundervolle Orte zu zeigen: die Münchner Innenstadt, die Pinakothek, den Olympiapark, die BMW-Welt, den Besucherpark des Münchner Flughafens, den Starnberger See, die Therme Erding und vieles mehr. Es gab ein paar Momente, die sich für immer in meine Seele eingebrannt haben.

Ich bin zum Beispiel zum ersten Mal im Leben mit meinem Vater Fahrrad gefahren. Ich zeigte ihm den Garchinger See, den Biergarten Mühlenpark, das Garching-Forschungszentrum, in dem mein Freund arbeitet, und das Hotel, in dem ich arbeite. Während dieser Radtour wurde ich wieder zu einem kleinen, unbeschwerten Mädchen. Ein weiterer herzbewegender Moment war ein kleines quadratisches Foto von mir im Alter von 15 Jahren, das ich zufällig in der Geldtasche meines Vaters sah. Auch wenn wir in verschiedenen Ländern leben, tragen wir einander immer im Herzen.

Papa sagte, was ihn am meisten überrascht habe, sei die Zahl der Ausländer in unserer Gegend. Witzigerweise schien es ihm auch ungewöhnlich, dass sogar am Rande von Garching die Wege zwischen den Feldern asphaltiert sind. Wir besuchten auch zum ersten Mal die Allianz Arena. Da haben wir ein EM-Spiel geschaut und mit der ukrainischen Nationalmannschaft mitgefiebert.

Besonders berührend war der Besuch bei Anna und Andreas, einer deutschen Familie, bei der ich anderthalb Jahre lang zur Miete lebte. Für mich war es absolut unglaublich, dass wir uns alle an einem Tisch versammelten. In diesem Moment verschmolzen meine beiden Parallelwelten zu einer. Da mein Vater leider weder Deutsch noch Englisch spricht, bat er mich an diesem Abend mehrmals, Anna und Andreas im Namen von ihm und meiner Mutter dafür zu danken, dass ich bei ihnen wohnen durfte. „Wenn ich mir nur vorstellen könnte, dass ich tatsächlich nach Deutschland kommen könnte, würde ich mir Mühe geben, zumindest ein bisschen Deutsch zu lernen“, sagte er später. Das ist fest im Gehirn der alten postsowjetischen Generation verankert, dass es unrealistisch ist, ins Ausland zu reisen.

Zwei Wochen vergingen wie im Flug, dann ging mein Vater durch die Sicherheitskontrolle am Flughafen. Ich behielt ihn im Auge, bis er völlig außer Sichtweite war. Tränen rollten über mein Gesicht. Ein paar Stunden später war er wieder zu Hause – in einer Parallelwelt, in der wir das dritte Jahr Krieg haben. Wann wir uns wiedersehen werden, wissen wir beide nicht. Aber egal, was kommt, was bleibt, sind die Erinnerungen. Ich werde diesen Besuch nie vergessen!

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