Rechtsmedizin fordert Zweite Leichenschau

von Redaktion

Prof. Oliver Peschel ist Rechtmediziner in München.

Ein Mann schiebt einen Sarg in den Ofen. Das Symbolbild zeigt das Krematorium Celle, das während der Pandemie einen starken Anstieg an Einäscherungen verzeichnet hat. © picture alliance/Julian Stratenschulte, Weißfuß

München – Wenn jeder Tote, der eines unnatürlichen Todes gestorben ist, einen Finger aus seinem Grab strecken könnte, würden Friedhöfe aussehen wie Spargelfelder. So lautet ein bekannter Spruch unter Rechtsmedizinern. Und dass der nicht an den Haaren herbeigezogen ist, bestätigt Oliver Peschel, Rechtsmediziner an der Ludwigs-Maximilians-Universität München. „700 bis 800 Tötungsdelikte werden pro Jahr in Deutschland erkannt“, sagt er. „Und rund 1200 bis 2400, die wir nicht erkennen. Und das ist bitter.“

In Bayern könnte diese Statistik mehr als andernorts der Realität entsprechen. Als einziges Bundesland verzichtet der Freistaat auf die sogenannte Zweite Leichenschau. Das heißt: Nur hier wird ein Leichnam vor der Einäscherung kein zweites Mal von einem Arzt auf die Todesursache hin untersucht. Das ist ein Problem. Denn ist die Leiche eines Opfers einer mutmaßlichen Gewalttat erstmal verbrannt, sind alle Beweise dahin.

„Dass die Zweite Leichenschau in Bayern nicht Pflicht ist, ist kriminalistisch ein unhaltbarer Zustand“, sagt Peschel, der jährlich 2000 Obduktionen durchführt – darunter immer mal wieder exhumierte Körper, um eventuell nachtäglich Tötungsdelikte aufzudecken. Bei Erdbestattungen ist das möglich, bei Feuerbestattungen nicht. „Deshalb ist es ein Unding, dass die Einführung immer wieder verschoben wird.“

In der Tat, seit 2016 wird diskutiert. Vor fünf Jahren, im November 2019, hatte der Landtag dann die entsprechende Änderung in der Bestattungsverordnung beschlossen. Sie sollte zum 1.Januar 2023 in Kraft treten, der Termin wurde verschoben. Bis 1.Juli 2024. Dann wieder verschoben. Jetzt soll die Zweite Leichenschau ab dem 1.April 2025 Pflicht sein.

Als Gründe für die Verzögerung nennt das Gesundheitsministerium „erhebliche organisatorische Anforderungen“, etwa weil Krematorien umgebaut und genug Ärzte dafür gewonnen werden müssten: „Die Gesundheitsämter verfügten nicht über die Personalkapazität zur Durchführung sämtlicher Leichenschauen in den 23 bayerischen Krematorien. Daher ist eine Beleihung von Ärzten notwendig, die die Durchführung eines komplexen Vergabeverfahrens voraussetzt. Dieses dauert derzeit noch an.“

Thomas Engmann, Geschäftsführer der Feuerbestattung Südostbayern in Traunstein, ist für den höheren logistischen Aufwand, den die Zweite Leichenschau mit sich bringen wird, schon lange gewappnet. Für 250 000 Euro hat er seine Kühlräume um ein Drittel vergrößert. „Nach dem Landtagsbeschluss Ende 2019 hieß es, dass die Zweite Leichenschau schnell, vielleicht sogar schon 2021 kommt“, sagt Engmann. „Also haben, soweit ich weiß, alle 23 Krematorien auch sehr schnell reagiert. Einige haben über eine Million Euro in Neubauten investiert.“

8000 Tote werden in Traunstein pro Jahr eingeäschert. Ist die Zweite Leichenschau Pflicht, wird jeder Einzelne vorab noch mal von einem qualifizierten Arzt untersucht.

„Wir bräuchten zwei Termine pro Tag, zehn bis 30 Leichenschauen müssten jeweils durchgeführt werden“, erklärt Engmann. „Deshalb haben wir Bestatter uns dagegen ausgesprochen, dass die Zuständigkeit allein bei den Behörden liegt, und für Dienstleister plädiert. Damit Angehörige nicht mit Wartezeiten von sechs bis zwölf Wochen leben müssen, bis eine Urne bestattet wird.“

Seit viereinhalb Jahren ist das Gesundheitsministerium nun damit beschäftigt, die „hoheitliche Aufgabe“ der Zweiten Leichenschau an „externe“ Personen, etwa Rechtsmediziner, Pathologen oder andere qualifizierte Ärzte zu übertragen. Allein seit die Änderung der Bestattungsverordnung 2019 beschlossen ist, könnte laut Rechtsmedizinern im Freistaat eine drei- bis vierstellige Zahl an Tötungsdelikten unerkannt geblieben sein.

Die Pflicht zur Zweiten Leichenschau wird immerhin auch im Ministerium als wichtiges „Kontrollinstrument“ angesehen. „Die Ärzte der Ersten Leichenschau sollen durch die generelle Möglichkeit einer Zweiten Leichenschau – und damit auch einer Überprüfung der ersten Leichenschau – angehalten werden, die Erste Leichenschau besonders sorgfältig durchzuführen“, erklärt ein Sprecher.

Bei der ersten Leichenschau werden nämlich häufig schwere Verbrechen übersehen. Mord, Totschlag, Tötung durch Unterlassen, Körperverletzung mit Todesfolge oder Tötung auf Verlangen. „Es ist selten, aber es gab schon Hausärzte, die Schussverletzungen oder steckende Messer übersehen haben. Ansonsten sind es natürlich spurenarme Tötungsdelikte, die nicht erkannt werden“, erklärt Rechtsmediziner Oliver Peschel. Die Opfer: Kinder, Alte, Pflegebedürftige.

„Ich hatte auch mal einen Fall, bei dem die Schwiegertöchter einem älteren Mann Rohrfrei ins Bier gekippt hat. Der Hausarzt hatte einen Herzinfarkt bescheinigt. Von außen hat man dem Toten die unnatürliche Todesursache nicht angesehen. Wer aber seine Lippen umgeklappt hätte, hätte Verätzungen bis in die Speiseröhre festgestellt.“

Wie kann so ein Fehler passieren? Die erste Leichenschau führen Ärzte oft unter erschwerten Bedingungen durch. Daheim, im Wohn- oder Schlafzimmer des Toten. Oft ist der Hausarzt zu Hause bei einer ganzen Familie von mehreren Angehörigen umringt, die weinen, unter Schock stehen.

Nur ein Bruchteil der Ärzte entkleidet die tote Person dann für eine Untersuchung, die eigentlich kriminalistischen Argwohn erfordert und keine Körperöffnung auslassen dürfte.

Immerhin kreuzt der Arzt – egal ob er viel oder wenig Routine in der Leichenschau hat – am Ende „natürlich“, „nicht natürlich“ oder „ungeklärt“ auf dem Totenschein an. Genau diese Einschätzung kontrolliert seit Jahren niemand mehr nach. Solange der Freistaat die Gesetzeslücke nicht endlich schließt.

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