KOLUMNE

Fußballtränen? Heult doch!

von Redaktion

Eine Studie der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft, der Gesellschaft für Augenheilkunde, aus dem Jahr 2022 sagt: Frauen weinen durchschnittlich bis zu 64 Mal im Jahr, Männer bis zu 17 Mal. Aber wann? Ich bin mir sicher: Wenn ein Mann ausnahmsweise weint, ist er als Spieler auf dem Platz, hat einen Elfmeter verschossen oder tobt als Fan auf den Rängen, sein Team verliert barbarisch oder siegt unfassbar triumphal. Diese Emotionen verstehe ich als Fußball-Enthusiastin durchaus.

Unvergessen das Spiel von Deutschland gegen Brasilien vor zehn Jahren, in dem die Seleção unterlag. 7:1, „sete a um“ – Zeiten, von denen wir bundesrepublikanischen Fußballfans nur noch träumen. „Sete a um“ ist in Brasilien Sinnbild heulender Männer, die sich beim Volk, bei Ehefrauen und Kindern, Großeltern, Nachbarn und dem Hund für eine krachende Niederlage entschuldigen. Ein Spieler, der nicht auf dem Platz war, bedauerte damals, nicht als direkt Betroffener mitweinen zu dürfen. Das ist echte Identifikation.

Olli Kahn, Ex-Nationaltorhüter, meinte allerdings: „Die weinen immer. Das kann man doch auch in der Kabine machen.“ Kann man, muss man aber nicht. Dann sieht es doch keiner. Das wäre schade. Ein weinender Mann weckt nicht nur die schönsten Gefühle. Er macht auch Hoffnung auf eine Welt, in der nicht bloß harte Kerle was zu sagen haben. Das sind die, die sich von eigenen und fremden Emotionen fernhalten, denen es schnurz ist, was sie sich selbst und anderen antun. Und davon gibt es ganz entschieden viel zu viele.

Björn Süfke, Diplom-Psychologe, Männerberater und Fußball-Fan, sagt, was sofort einleuchtet. Wer keinen Zugang zu seinen Gefühlen hat, der ist nicht nur im Innersten unglücklich. Er lebt weniger gesund, wird anfälliger für psychische und körperliche Krankheiten. Alkohol und Drogen sind für ihn eher eine Versuchung. Sogar der Gedanke, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, liegt näher, wenn man nicht in gutem Kontakt mit sich selbst steht, weiß, was sich in einem so alles abspielt und wie man damit umgehen könnte.

Fußball-Europameisterschaft. Da sind Männer so, wie man es sich selbst und ihnen wünscht: Sie umarmen sich, zeigen Herzchen Richtung Familie, rollern fröhlich gemeinsam über den Boden, springen sich friedlich an und – sie weinen. Weinen löst Spannungen und baut Stress ab. Schädliche Eiweißstoffe, die sonst krank machen, werden mit der Tränenflüssigkeit ausgespült. Lasst uns nicht bloß Spielern und Fans, sondern vor allem den Mächtigen dieser Welt zurufen: Heult doch! Dann geht’s uns allen besser.

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