80 JAHRE HITLER-ATTENTAT

„Sie verstanden die Welt nicht mehr“

von Redaktion

Autor Tim Pröse über die Hinterbliebenen der Widerstandskämpfer

Der Widerstandskämpfer: Claus Schenk Graf von Stauffenberg mit seinen Kindern im Jahr 1940. © dpa

Autor Tim Pröse hat ein Buch über die „Kinder des 20. Juli“ geschrieben. © Marcus Schlaf

Nach dem Attentat: Reichsmarschall Hermann Göring (helle Uniform) und der Chef der „Kanzlei des Führers“, Martin Bormann (l.), machen sich ein Bild von der Zerstörung. Zuvor hatte Oberst Stauffenberg am 20. Juli 1944 eine Sprengladung gezündet, um Adolf Hitler zu töten. Das Attentat scheiterte. © Hoffmann/dpa

München – Am 20. Juli 1944 verübte Graf von Stauffenberg einen Anschlag auf Hitler. Das Attentat vor nun genau 80 Jahren misslang, etwa 200 Männer, die den Widerstandskreisen zugerechnet wurden, wurden von den Nazis ermordet. Die Hinterbliebenen brauchten oft lange, um alles zu verstehen, schreibt der Autor Tim Pröse in seinem Buch („Wir Kinder des 20. Juli“, Heyne Verlag, 22 Euro). Ein Interview.

Herr Pröse, Hand aufs Herz, hätten Sie ein Attentat auf Adolf Hitler verüben können?

Nein, auf keinen Fall hätte ich das jemals vermocht. Gerade weil ich weiß, dass ich einer von denen gewesen wäre, die mitgegangen wären. Umso mehr darf ich diese Frauen und Männer verehren, die aus der Reihe ausgetreten sind und etwas Besonderes gewagt haben. Und weil ich ein ganz normaler Mann gewesen wäre, versuche ich mir vorzustellen, woher einige diesen Mut genommen haben. Und diese Vorstellung beflügelt mich.

Sie waren eingeladen, in Berlin am alljährlichen Treffen der Kinder des 20. Juli teilzunehmen. Was geht einem als Beobachter da durch den Kopf?

Einige Väter der Kinder sind am 8. September 1944 im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee hingerichtet worden. Und an dem Todestag trifft sich rund ein Dutzend der Nachfahren an der heutigen Gedenkstätte. Es ist ein großer Vertrauensvorschuss, als Reporter bei so einer intimen Sache dabei zu sein, Menschen in ihrem Kern zu erleben, in ihren tiefen Gefühlen, wenn man sich erinnert an den toten Vater und dann noch unter dem Galgen steht, an dem er gehangen hatte. Die Kinder des 20. Juli haben mir ein Geschenk gemacht, mich hineinzuversetzen in ihre Seelen.

Welche Geschichte eines Nachfahren hat bei Ihnen am meisten Eindruck hinterlassen, lässt sich da was rausgreifen?

Nein. Ich bin ein Gast geworden dieser Kinder des 20. Juli, dieser Familie. Ich habe ein Dutzend Menschen porträtieren dürfen, alle haben mich gleichermaßen völlig begeistert für dieses Thema. Was ich aber sagen kann, ist, dass mir die Schilderung jener Kinder von den Prozessen gegen ihre Väter besonders in Erinnerung geblieben ist. Als sie vor dem Blutrichter Roland Freisler standen und wie sie sich dort verhalten haben. Anton Wirmer hat zum Beispiel erzählt, dass sein Vater Josef Wirmer von Freisler niedergebrüllt wurde: „Sie werden bald zur Hölle fahren, Wirmer!“ Josef Wirmer deutete eine Verbeugung an und sagte: „Es wird mir eine Ehre sein, wenn Sie bald nachkommen, Herr Präsident.“

Sein Sohn Anton Wirmer hat mal gesagt: „Hat mein Vater dabei auch an mich gedacht?“ Schwingt in der Rückblende auch der ein oder andere Vorwurf mit? Schließlich haben die Widerstandskämpfer ihre Familien zurückgelassen.

Frauke Hansen hat das ähnlich formuliert. Es beinhaltet, dass die jungen Kinder, die ohne Vater aufwuchsen, sich natürlich gefragt haben, warum hast du mich verlassen? War es das wert, dass du deine Frau, deine Kinder zurückgelassen hast? Dafür brauchten sie manchmal ein ganzes Leben, um zu verstehen, dass der Vater das für sein Land – unser Land – getan hat. Dass er es für etwas Größeres getan hat als für sich und seine Familie. Für die Freiheit eines Landes.

Es bestand für die Hinterbliebenen aber auch die Gefahr einer Verfolgung.

Ja, die gab es natürlich. Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Frau Nina haben daher darauf geachtet, dass ihre Kinder als Mitläufer erzogen wurden und nicht als kleine Widerstandskämpfer. Heinrich Himmler hatte damals angeordnet, dass die ganze Familie Stauffenberg bis ins letzte Glied ausgerottet wird. Dass es nicht so kam, lag daran, dass die Kinder nichts wussten. Sie verstanden die Welt nicht mehr, als sie aus ihren Familien herausgezerrt und in Sippenhaft genommen wurden. Dieses Nicht-Wissen hat ihnen vermutlich das Leben gerettet.

Sie haben für Ihr Buch auch mit einem Widerstandskämpfer gesprochen: Ewald-Heinrich von Kleist stellte sich mit gezogener Waffe vor Stauffenberg, als dieser von Generaloberst Fromm abgeholt werden sollte.

Er war ein tapferer und mutiger Mann. Als Philipp Freiherr von Boeselager 2008 starb, schrieben sogar Fachleute, dass der letzte der Stauffenberg-Widerstandskämpfer gegangen sei. Viele, auch ich, wussten gar nichts von Ewald-Heinrich von Kleist. Er lebte unerkannt am Isarhochufer. In einer Gegend, die man sonst nur aus Derrick-Filmen kennt: eine weiße Villa verborgen hinter Thujenhecken und einer weißen Mauer. Ewald-Heinrich von Kleist war es egal, wie die Nachwelt ihn sieht. Er war unabhängig in seinem Tun, er legte keinen Wert auf Öffentlichkeit. Es war unheimlich schwierig, überhaupt Einlass bei ihm zu bekommen. Ein imposanter Mann in seiner Demut und gleichzeitigen Größe. Als ich ihn nach der Geschichte mit Stauffenberg und Fromm fragte, sagte er: Ach, Sie meinen diese kleine Revolvergeschichte.

Hat Ihr Buch eine Moral, gibt es einen Lerneffekt?

Das müssen die Leser entscheiden. Was ich aber schon sagen kann, dass ich mit meinen Büchern schon an 250 Schulen zu Lesungen war. Ich hoffe auf einen Lerneffekt. Mein Freund Udo Lindenberg hat mal gesagt, die Menschen in Tims Büchern tragen ein Feuer bei sich. Wir dürfen nicht die Asche anbeten, sondern müssen das Feuer weitertragen. So sehe ich das auch, die Schüler sollen es ebenfalls weiterreichen. Darum geht es, möglichst viel Licht in die Welt zu bringen.

Gibt‘s heute noch Helden?

In unserem Land ist das aktuell zumindest nicht notwendig. Aber ja, es gibt Helden. Ich denke da an Alexej Nawalny. Er hat unser Land verlassen, um in seinem Heimatland gegen ein autoritäres Regime zu kämpfen. Und zwar in dem Wissen, scheitern zu werden. Ich sehe ihn gerne in der Reihe der Widerstandskämpfer vom 20. Juli. Es braucht jemanden, der vorangeht, ohne Aussicht auf Erfolg. Ich spreche vom Lohn der Vergeblichkeit, dass es all diesen Menschen nicht ums Siegen ging, sondern ums Tun. Solche Menschen braucht es heute einmal mehr.

Artikel 1 von 11