NATALIAS NEUANFANG

Leben in zwei so verschiedenen Welten

von Redaktion

Natalia Aleksieieva mit ihrem Vater Mykhailo.

Natalia Aleksieieva ist am 7. März 2022 aus Odessa nach München geflüchtet. Sie hat hier eine Wohnung und einen Job gefunden. In ihrer Kolumne berichtet die 29-Jährige über ihr neues Leben in Bayern und über die Nachrichten aus ihrer ukrainischen Heimat. Ihre Texte schreibt sie auf Deutsch.

Seit knapp zweieinhalb Jahren stecken wir im Krieg fest. Im Juni wurde mein Traum wahr – mein Vater besuchte mich zum ersten Mal in Deutschland. Wir gingen viel spazieren und genossen die Sehenswürdigkeiten, aber der Krieg war keinen einzigen Tag lang vergessen. Wenn wir nach Hause kamen, organisierte mein Vater telefonisch den Kauf von Militärausrüstung für meinen Cousin, der jetzt im Krieg kämpfen muss. Er wurde im Dezember auf dem Weg zur Arbeit eingezogen. Dann war er vier Monate lang im Militärtraining. Während dieser Zeit wurde er zum Maschinengewehrschützen und Drohnenjäger ausgebildet. Nun befindet sich mein Cousin nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt und bewacht sie vor den russischen Truppen. Obwohl die ukrainische Armee die Soldaten hervorragend bewaffnet und ausgebildet hat, kann sie nicht alle Soldaten mit der hochwertigsten Ausrüstung ausstatten. Deswegen besorgten meine Eltern ihm eine Schutzweste, Schutzplatten, einen Kompass und ein Fernglas.

Die Nachricht über einen neuen Raketenangriff auf die Ukraine und den Bombenanschlag auf das größte Kinderkrankenhaus in Kiew am 8. Juli erfuhr ich während meiner Arbeit von meinem ukrainischen Kollegen im Hotel. An diesem Tag starben in der Ukraine 33 Menschen, weitere 140 Menschen wurden verletzt. Darunter auch Kinder. Ich rief meinen Vater an. Er wusste von der tragischen Nachricht, aber berichtete mir unbeschwert, dass er nun mit meiner Mutter ans Meer fährt, um sich zu entspannen. Am selben Tag fand in Garching ein Volksfest statt. Überall war Musik zu hören, Pferdekutschen fuhren durch die Straßen. All diese Ereignisse passten in meinem Kopf nicht zusammen. An diesem Tag habe ich gespürt, dass mir der Krieg unglaublich nahe ist, ich aber auch extrem weit weg bin.

Mein Leben in Garching ist unbeschreiblich schön. Ich höre hier nie auf, Neues zu lernen. Ich habe neulich herausgefunden, dass meine Krankenkasse die Kosten für alle Grundimpfungen übernimmt. Ich habe sie seit meiner Kindheit nie aufgefrischt.

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