Was wurde hier besprochen? Die Bouhlers beim Tischtennisspiel auf der Terrasse ihres Landsitzes. © privat
Postkartenidylle: Das Haus in der Nachkriegszeit. Den Pool gibt es heute nicht mehr. © privat
Philipp Bouhler mit seiner Ehefrau Helene. Im Hintergrund eine nicht identifizierte Person. © privat
Schwierige Geschichte: Jörg Beller im Garten des einstigen Landsitzes. Er ist hier aufgewachsen. Heute ist hier der Kindergarten der Gemeinde. © dw
Nußdorf – Es ist ein herrlicher Blick von hier oben. Jörg Beller steht auf der Terrasse des Kindergartens in Nußdorf am Inn und schaut sich um. Es ist neblig an diesem Tag, aber man sieht die Berge, Bauernhöfe, das Inntal. „Ich kenne hier jeden Stein“, sagt er. Dort hinten, sagt er und weist auf die Rasenfläche, war früher ein kleines Schwimmbad, blau gestrichen. „Etliche Schulklassen haben hier Schwimmen gelernt.“ Und seitlich des großen Gebäudes, wo ein Hang bergauf führt, da war früher ein Felsenkeller. Die Amerikaner haben ihn später gesprengt.
Jörg Beller (62), Inhaber eines Reisebüros in Rosenheim, ist hier aufgewachsen. Von 1961 bis 1990 war in dem Gebäude das „Kinderheim Inntal“ untergebracht, Beller war der Sohn des Ehepaares, das das Heim leitete. Erst spät hat er erfahren, wer in dem Haus zuvor gewohnt hatte. Es war der Nationalsozialist Philipp Bouhler, ein Intimus von Hitler, Organisator des Massenmords an behinderten Menschen, schönfärberisch „Euthanasie“ genannt. Für Jörg Beller ist Philipp Bouhler „der Adolf Eichmann der Euthanasie“.
Ein Organigramm der Amerikaner über die „barmherzigen Killer“
Bei einer Rast im Wirtshaus holt Jörg Beller aus einer Klarsichthülle eine Organigramm hervor. „Euthanasie-Programm – Mercy Killers“, steht darauf, also die Täter, die angeblich aus „Barmherzigkeit“ mordeten: Bouhler ist ganz oben genannt. Philipp Bouhler (1899-1945) war Leiter der sogenannten neuen Kanzlei des Führers der NSDAP, kurz KdF, und Hitler direkt unterstellt. Als solcher kontrollierte er den privaten Postverkehr Hitlers. Das meiste war wohl Fanpost, allerdings gab es auch viele Eingaben zu Wirtschaftsfragen, schreibt der Historiker Hans-Walter Schmuhl, von dem eine der wenigen biografischen Studien stammt. Und manche Gesuche betrafen auch ganz heikle Themen, Zwangssterilisationen, Eheverbote aufgrund der NS-„Rassengesetze“ oder auch Eingaben zur Sterbehilfe.
Nachdem die KdF um 1938/39 mehrere Gesuche zur Sterbehilfe an Hitler zur Entscheidung weitergeleitet hatte, beauftragte dieser wahrscheinlich mündlich Bouhler und den Arzt Karl Brandt, körperlich und geistig behinderte Kinder und später auch Erwachsene töten zu lassen. So bildete sich eine regelrechte „Euthanasie-Zentrale“, schreibt der Historiker, die Schritt für Schritt den Massenmord an weit über 100 000 Menschen organisierte. Bouhler setzte mit Brandt Selektionskriterien fest, entschied also, wer vergast oder mit der Giftspritze umgebracht werden sollte – in Heimen, die nun zu „Tötungsanstalten“ wurden. Schloss Hartheim bei Linz etwa, oder auch München-Haar, wo behinderte Menschen auch in sogenannten Hungerhäusern grausam zugrunde gerichtet wurden.
Viel weiß man nicht über den überzeugten Nationalsozialisten Bouhler. Der Historiker Hans-Walter Schmuhl nennt ihn „eine der undurchsichtigsten Gestalten des Dritten Reiches“. Weil Bouhler und seine Ehefrau Helene, geborene Mayer, kinderlos blieben und kurz nach Kriegsende Selbstmord begingen, auch schriftliche Unterlagen nur spärlich überliefert sind, geriet er aus dem Blickfeld der Historiker. „Selbst unter Zeithistorikern ist der Name Bouhler kaum bekannt“, sagt der Münchner Geschichtsforscher Paul Hoser, der an diesem Tag mit hinaufgefahren ist zum ehemaligen Haus Bouhlers.
Wobei Haus etwas untertrieben ist, Villa oder Landsitz trifft es wohl eher. Jörg Beller hat sich die Baupläne besorgt. „Eingabeplan für den Neubau eines Landhauses für Herrn Reichsleiter Philipp Bouhler“ steht da drauf, gezeichnet von Alois Degano aus Gmund am Tegernsee. Historiker Hoser stutzt: „Degano war der Architekt vom Obersalzberg“ – Hitlers Berghof. Und in der Tat fallen da manche Parallelen ins Auge. Insgesamt 17 Zimmer hatte das 1936 erbaute, 1939 noch einmal erweiterte Riesenhaus. Sechs Schlafzimmer, ein Bügelzimmer, eine Halle (in die sich Bouhler ein Kino einbauen ließ) und eine Bauernstube werden im Eingabeplan genannt. Später kam noch ein Bunker dazu.
So opulent ist das Landhaus, dass Beller von einer „zweiten Reichskanzlei“ spricht – und damit vielleicht nicht falsch liegt. Ähnlich wie in Hitlers Berghof könnten auch in Bouhlers Haus mörderische Entscheidungen getroffen worden sein. Jörg Beller hat sich schon vor 20 Jahren umgehört im Ort, hat heute längst verstorbene Zeitzeugen getroffen, zum Beispiel den einstigen Fahrer Bouhlers, einen ehemaligen SS-Mann, der den Nazi auch zum Berghof kutschierte, „zum Führer“, wie er Beller sagte. Hitler, Himmler und Göring sollen umgekehrt auch bei den Bouhlers zu Gast gewesen sein, so erzählte man es sich im Ort. Für die Nußdorfer waren die verschwenderisch lebenden, aber gegenüber Vereinen damals durchaus spendablen Bouhlers „wie ein Königspaar“, sagt Beller. Und wer weiß, über was in dem Landhaus gesprochen und getagt wurde, wenn andere hohe Nazis zu Besuch waren.
Termin im Staatsarchiv München. Im Lesesaal liegen drei Aktenbündel aus der Nachkriegszeit auf dem Tisch – von der „Vermögenskontrolle“ Rosenheim. In ihnen stehen die Details über das Haus. Dass das Grundstück eigentlich drei Einheimischen gehörte, und dass Bouhler und seine Ehefrau Helene („Reichsleiterseheleute in Berlin-Charlottenburg“) aufgrund einer Schenkung Hitlers in der Lage waren, im Oktober 1935 das Grundstück zu kaufen und sich ein Haus zu bauen. Der Münchner Historiker Hoser nimmt an, dass sich Hitler vor allem von der hübschen Ehefrau Helene bezirzen ließ und deshalb sechsstellige Summen spendierte, wobei mit Erlass des Reichsministeriums der Finanzen am 1. April 1936 verfügt wurde, dass die Bouhlers nicht einmal Schenkungssteuer zahlen mussten („entspricht dem Willen des Führers“). So steht es in der Akte, Ordnung muss sein.
Die Geschichte geht aber nach 1945 noch weiter. Bouhler flüchtete im Gefolge Görings und verübte wahrscheinlich am 20. Mai 1945, gram über den Untergang der Nazi-Diktatur und wohl in Vorahnung auf eine mögliche Verurteilung als Massenmörder, in Österreich Suizid (seine Ehefrau folgte ihm in den Freitod). Das Bayerische Landesamt für Vermögensverwaltung, Zweigstelle Rosenheim, musste sich danach mit seltsamen Eingaben herumschlagen. Die Mutter von Ehefrau Helene, eine Oberstudiendirektoren-Witwe aus Freising, verlangte als angebliche Alleinerbin die Herausgabe des Landhauses.
Als die Behörde das verweigerte, zog ihr Sohn, also der Bruder von Bouhlers Ehefrau, einen Rechtsanwalt zu Rate. Der bestritt, dass Bouhler das Geld zum Hausbau von Hitler erhalten und das Vermögen somit, wie es die Alliierten 1945 vorschrieben, an den Staat gefallen sei. Vielmehr habe Bouhler das Haus aus seinem Privatvermögen gezahlt. „In diesem Zusammenhang darf ich darauf hinweisen, dass Bouhler aus seiner privatwirtschaftlichen literarischen Tätigkeit (…) mindestens 500 000 Reichsmark verdient hat.“ Was für literarische Werke Bouhler verfasst hatte, verschwieg der Anwalt wohlweislich: Zum Beispiel vulgäre antisemitische Hetzartikel über „jüdische Mädchenhändler“, die 1927 im „Illustrierten Beobachter“ erschienen. Deshalb wurde Bouhler sogar verurteilt. Seine völkisch-ideologische Prägung hatte der junge Bouhler zu den Nazis mitgebracht. „Antisemit war Bouhler bereits, bevor er Nationalsozialist wurde“, schreibt der Historiker Hans-Walter Schmuhl.
Nach 1945 kamen Kinder zur Erholung in das Heim der Bellers
Aus den Akten im Archiv geht auch hervor, dass sich für das opulente Anwesen nach 1945 verschiedene karitative Einrichtungen interessierten. Zum Beispiel die Deutsche Reichsbahn, die 1948 mit der Idee vorstellig wurde, hier ein Erholungsheim für „Körperbeschädigte“ (so nannte man das damals) einzurichten. Das Rote Kreuz wiederum schlug ein Kindererholungsheim vor. Schließlich kamen die Eltern von Jörg Beller zum Zuge, es entstand ein Heim, in dem Kinder vornehmlich aus Hessen (daher stammten die Eltern) in den Ferien unbeschwerte Tage verbrachten. Bis in die 1990er-Jahre war das so. Dann kaufte die Gemeinde die Immobilie dem Freistaat ab. Jörg Beller wohnte als Kind im Obergeschoss und ahnte lange nichts von der Geschichte. Heute sagt er: „Ein Haus bedeutet Heimat, hier ist es aber auch Heimat von Verbrechen.“
Letztes Kapitel: Wo früher der Nazi-Mörder wohnte, ist heute der Kindergarten der Gemeinde. Kleine Tischchen und Stühlchen in der einstigen Halle, wo noch der Kamin als Originalrelikt aus der alten Zeit vorhanden ist im „Bouhler-Haus“, wie eine Kindererzieherin bei der kurzen Besichtigung das Gebäude nennt. Eine schwierige Geschichte, sagt Beller. Er setzt sich auf die Terrassenstufen aus Granitstein – alles noch Original aus den 1930er-Jahren. Beller hat die Bürgermeisterin informiert. Natürlich habe die Gemeinde das Recht, das Haus zu verwenden. Auch gegen den Kindergarten hat er nichts einzuwenden, ganz im Gegenteil. Aber auf eine irgendeine Weise, meint er, sollte doch vor Ort an die NS-Geschichte erinnert werden.
DIRK WALTER