Das stillgelegte Kernkraftwerk Grafenrheinfeld war bis zu seiner Abschaltung das älteste noch aktive Atomkraftwerk in Deutschland. Bis 2015 war es 33 Jahre im Dienst. Seit 2018 läuft dort der Rückbau, er wird noch zehn Jahre dauern. © dpa
Grafenrheinfeld – Sollte auf den letzten Metern nicht noch etwas Unvorhersehbares geschehen, werden die Kühltürme des Atomkraftwerkes (AKW) Grafenrheinfeld an diesem Freitag gesprengt. 143 Meter hoch, am Boden beträgt der Durchmesser je rund 105 Meter, etwa 64 Meter sind es am oberen Ende – mit nur wenigen Sekunden Abstand sollen die beiden Kolosse wahrscheinlich gegen Abend in sich zusammenfallen. Womöglich unter den Augen tausender Schaulustiger, die sich außerhalb der Absperrzone entlang des Mains und auf Wiesen und Feldern niederlassen können.
1974 begann der Bau des Kraftwerks. Die erste Kettenreaktion wurde Ende 1981 angestoßen, von Juni 1982 floss Strom ins Netz. Das ist Geschichte: Wenn alles klappt, wird es die bundesweit zweite Sprengung von Kühltürmen eines stillgelegten Kernkraftwerks gewesen sein. Im Mai 2020 waren in Deutschland erstmals zwei Kühltürme eines Atomkraftwerkes gesprengt worden – im baden-württembergischen Philippsburg.
Wie viel Sprengstoff für die insgesamt rund 34 000 Tonnen Stahlbeton, Metalle und Kunststoffe nötig sind, verrät die zuständige Thüringer Sprenggesellschaft nicht. Auch Details wie die Anzahl der zu bohrenden Löcher, die mit Sprengladungen befüllt sein werden, sind geheim. Auf dem Kraftwerksgelände soll am Freitag niemand mehr unterwegs sein, der nicht unmittelbar mit der Sprengung befasst sein wird. Das heißt: Auch Anlagenleiter Bernd Kaiser und der verantwortliche Projektleiter im Kraftwerk, Matthias Aron, werden ihren Arbeitsplatz stundenweise verlassen müssen.
„30 Sekunden – so lange dauert die Party“, erklärt Aron. Die Sprengung wird zunächst durch Sprengsignale, sogenannte Fanfarenstöße, angekündigt. Unmittelbar davor soll es einen Knall geben. So soll verhindert werden, dass Tiere wie Vögel, die noch auf den Kühltürmen sitzen, zu Schaden kommen. Danach erfolgt die eigentliche Sprengung: Zuerst der nördliche Turm ZP2, 15 Sekunden später ist ZP1 dran. „Ein Donnerschlag ist lauter als die Sprengung“, versichert Anlagenleiter Kaiser.
Direkt nach der Sprengung kann kurzzeitig viel Staub in unmittelbarer Nähe des Kraftwerksgeländes in der Luft sein. Die Staubwolke wird sich aber wahrscheinlich nach wenigen Minuten aufgelöst haben. Der Kraftwerksbetreiber rechnet auch nicht mit einer gesundheitsschädlichen Wirkung durch Feinstaub für Anwohner, weil Wohnhäuser schlicht zu weit weg sind. Zurück bleibt, wenn alles klappt, ein sehr überschaubarer Schutthaufen. Mehr als zwei Drittel des Materials sollen später weiter genutzt werden, etwa um eine Lagerfläche herzustellen. Da die Türme nach Angaben des Betreibers Preussenelektra keine Verbindung zum nuklearen Teil der Anlage haben, sind sie auch nicht kontaminiert – radioaktive Strahlung wird also nicht freigesetzt.
Nach dem Spektakel müssen die beiden Netzbetreiber Tennet und Bayernwerk die vorhandenen Stromkreise auf Schäden und Schmutz überprüfen. Zudem schauen sich Experten die Gebäude auf dem Gelände an und auch die beiden Zwischenlager für hoch radioaktive Abfälle. Insgesamt kostet der Abbruch der Kühltürme gut drei Millionen Euro. Der Bauschutt der Kühltürme wird übrigens zu zwei Dritteln an Ort und Stelle entsorgt – in den sogenannten Kühlturmtassen, also den bis zu zwei Metern tiefen Fundamenten der Kühltürme.
Damit gesprengt werden kann, müssen vier von fünf 380-Kilovolt-Hochspannungstrassen, die in Grafenrheinfeld zusammenkommen und für die Stromversorgung von Europa wichtig sind, abgeschaltet werden. Die Abschaltung ist nur möglich, wenn an dem Tag möglichst wenig Windstrom im Netz ist. Eine Überlastung des Stromnetzes aufgrund hoher Windeinspeisung und gleichzeitiger Abschaltung einzelner Stromkreise wird Netzbetreiber Tennet vermeiden. Die Versorgungssicherheit habe Vorrang. Es kann also auch sein, dass es mit der Sprengung am 16. August kurzfristig nichts wird.