KOLUMNE

Eine Lektion in Großmut

von Redaktion

„Hey!“, blafft mich der rasende Radfahrer an, als er an mir vorbeirauscht. Und brüllt noch: „Erst Augen aufmachen und dann über die Straße gehen!“ Der Herr, nein, es ist kein Herr, könnte altersmäßig gerade so mein Sohn sein. Obwohl ich mir so einen unhöflichen Menschen nicht als mein erwachsenes Kind vorstellen möchte. Was war passiert? Ich wollte die Straße überqueren, der Blick nach links war mir durch einen Transporter verstellt. Ich bin vorsichtig einen Schritt nach vorn gegangen, um zu sehen, ob jemand kommt. Es kam jemand und deshalb bin ich von der Fahrbahn wieder zurückgetreten. Keine Gefahr für niemand.

Was ist los mit den Leuten, dass sie oft bei den kleinsten Anlässen ausrasten und nicht mal mehr ein Minimum an Anstand und Respekt zeigen? Oder wenigstens die Fähigkeit zur Auseinandersetzung? Es ist der Stress, sagen viele Psychologen. Die zunehmende Schnelligkeit unseres Lebens, der Zeitdruck und die beruflichen wie privaten Frustrationen. Das Gefühl, nicht mehr selbstbestimmt existieren zu können. Ungewissheit macht aggressiv, die Angst vor einer unsicheren Gegenwart und einer nicht mehr so recht vorhersehbaren und planbaren Zukunft.

Für uns in Deutschland scheint das seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs neu. Obwohl es seitdem eine Menge dramatischer Situationen gab. Es fällt aber vielen offenbar schwer, mit den momentanen Herausforderungen umzugehen. Manchmal frage ich mich, wie das Menschen in anderen Ländern bewältigen. Dort, wo das Leben niemals so war und ist, wie wir es gewöhnt sind. Und wie wir es immer noch haben, auch wenn sich vieles um uns herum gefühlt und tatsächlich durch Klimakrise, wirtschaftliche Einbrüche, durch Kriege, Anschläge und Terror verändert hat.

Darauf zu schauen, wo wirklich Probleme sind und wo es nur um den ganz alltäglichen Wahnsinn geht, das hilft gegen ansteigende hilflose Wut. Dafür muss man sich aber gründlich informieren. Wichtig ist auch, mit anderen zu diskutieren, die eigenen Gefühle auszudrücken und zu benennen, was einen umtreibt. So kriegt man die eigenen „Dämonen“ in den Griff, entwickelt eventuell neue Perspektiven und gewinnt den Schwung, um wieder positiv zu denken. Sich artikulieren und genau hinschauen ist das Gebot der Stunde. Einander in einer negativen Weltsicht zu bestätigen, bringt nichts.

Vor Kurzem bin ich einem Radfahrer direkt in den Weg gelaufen. Vollkommen in Gedanken stand ich vor einem jungen Mann, der wegen mir mit Wucht auf die Bremse hatte treten müssen. Peinlich berührt stotterte ich etwas von „nicht aufgepasst, Entschuldigung bitte“. Ich erwartete dennoch einen veritablen Wutanfall. Der junge Herr, ja, er ist einer, strahlte mich an und meinte: „Kann passieren. Ist ja gut gegangen. Alles okay.“ Danke. Auch für die Lektion in Großmut, die ich selber gut gebrauchen kann.

Artikel 1 von 11