Die Freisinger Polizei bedankt sich im Juli 2023 mit Blumen bei Helga Ghobashi für ihren beherzten Einsatz. © Lehmann
In schwer einsehbarem Dickicht stand Tyleceks Auto nach dem Unfall, bis es ein Schutzengel endlich bemerkte. © FW Attenkirchen
Zurück am Unglücksort: Radim Tylecek steht vor dem Gebüsch, in dem er vergangenes Jahr über zwei Tage auf Hilfe gewartet hat. © Rainer Lehmann
Attenkirchen – Radim Tylecek steht heute an dem Ort, an dem ihm vergangenes Jahr ein schwerer Unfall passiert ist. Hier im Straßengraben, versteckt im Dickicht, lag er nach einem Autounfall zwei Tage lang schwer verletzt. Während dieser quälend langen 53 Stunden hat er immer wieder um Hilfe gerufen. 3180 Minuten lang hat er gehofft, dass ihn jemand findet und rettet.
Es ist der 4. Juni 2023. Tylecek hört durch das Gebüsch immer wieder Autos über die Bundesstraße 301 zwischen Attenkirchen und Zolling im Kreis Freising brettern. Aber keinem Autofahrer fällt auf, dass da sein silbernes Auto im Graben steht. Das Gras neben der Straße ist zu hoch, die Blätter im Sommer dicht. Tyleceks Schreie kommen in den vorbeirauschenden Autos nie an.
„Es war ein heißer Sommertag und ich war auf dem Weg zur Frühschicht in die Arbeit“, erinnert sich der 38-Jährige an eben jenen Sonntagmorgen. Tylecek pendelt von Au in der Hallertau zum Flughafen München, wo er als Flugzeugabfertiger arbeitet. „Ich war total übermüdet. Als ich durch das kleine Waldstück gefahren bin, habe ich die erste Kurve geschafft, aber die zweite nicht mehr.“
Sekundenschlaf. Tylecek kommt nach rechts von der Straße ab. Er schlittert über eine erhöhte Feldeinfahrt. Sein Auto wird in die Luft katapultiert. Es donnert nach gut zehn Metern gegen einen Baum – und fällt zu Boden. Der Unfall passiert früh morgens um 5.40 Uhr. Was Tylecek gerade erlebt hat, kann von der Straße aus niemand erkennen. Von einem Unfall fehlt jede Spur.
„Mein Handy und die Autohupe waren wegen der Airbags kaputt. Der Autoschlüssel war abgebrochen. Da ich damals aber ja auf dem Weg zur Arbeit gewesen bin, hatte ich zumindest meine Brotzeitbox sowie zwei 1,5-Liter-Flaschen Cola dabei“, erzählt Tylecek. Jeweils zwei seiner Hals- und Brustwirbel sind gebrochen, der rechte Oberschenkelknochen zertrümmert, sein Gesicht voller Kratzer und der Kopf übersät mit Platzwunden. Tylecek blutet, kann sich kaum bewegen. Am ersten Tag bleibt er im Auto, am zweiten robbt er nach draußen. „Ich war vor Erschöpfung immer wieder bewusstlos“, erzählt er. „Ich habe oft um Hilfe gerufen, aber ansonsten versucht, ruhig zu bleiben. Panik zu haben – das habe ich mir einfach immer wieder selbst verboten.“
Die Hoffnung gibt Radim Tylecek nicht auf. Seine Eltern daheim in Tschechien mussten schon einmal um seinen Bruder bangen. Seinen Motorradunfall hatte der damals überlebt, es soll auch dieses Mal gut ausgehen. „Ich hatte viel Glück, ich war ja noch am Leben. Vielleicht hat meine verstorbene Oma auf mich aufgepasst“, sagt Tylecek. 53 Stunden kämpft er gegen die Stimmen im Kopf, die einem in so einer Extremsituation doch stets leise zuflüstern, wie die schlimmstenfalls enden könnte. „Ich lag da, bis mich ein Schutzengel gefunden und mir geholfen hat.“
Es war ein leibhaftiger Schutzengel, genauer gesagt eine UPS-Kurierfahrerin. Der Freisingerin Helga Ghobashi fällt auf ihrer Tour am 6. Juni 2023, 53 Stunden nach Tyleceks Unfall, eine Spiegelreflexion im Gebüsch auf. Sie wendet ihren Sprinter, dreht um. Beim Zurückfahren fällt Ghobashi erst nichts mehr auf, aber sie fährt noch mal an der Stelle vorbei. Und wieder reflektiert da was hinter all dem Gestrüpp. Sie parkt – und hört Hilferufe.
Tylecek wird notoperiert, seine Nieren versagen schon. Eine zweite OP folgt, Nägel halten seinen Oberschenkel zusammen. Dann wochenlang Reha, monatelang Physio. Fast ein Jahr braucht er, um wieder fit zu werden. Inzwischen kann er über seinen Unfall sprechen. Ohne viel Emotion. Und er geht wieder arbeiten. Auf seinem Weg zum Flughafen fährt er jedes Mal an dem Ort vorbei, an dem er 53 Stunden lang auf Hilfe gewartet hat. Jetzt im Sommer ist das Gebüsch wieder grün und dicht. Da konnte er sich mit seinen schweren Verletzungen nicht durchschlagen. Aber sein Schutzengel konnte es.