Warten auf den Bus, der nie kommt: Bis vor anderthalb Jahren stand vor einem Heim der Münchenstift noch eine Bushalte-Attrappe, die verhindern sollte, das Demenzkranke weglaufen. Heute setzt man im Heim auf eine andere Strategie. © Marcus Schlaf
München – Die Bushaltestelle stand mitten im Garten, weit weg von der Straße. Und ein Bus hat dort nie gehalten. Dafür saßen häufig Senioren auf der Bank, die geduldig gewartet haben und irgendwann wieder ins Haus zurückgingen. Genauso war die Phantom-Bushaltestelle vor dem Schwabinger Pflegeheim der Münchenstift auch gedacht. Sie sollte verhindern, dass demenzkranke Bewohner in einen echten Bus steigen oder einfach loslaufen und die Orientierung verlieren. Das passiert überall in Bayern tagtäglich – und immer wieder sind große Suchaktionen der Polizei nötig, um die Vermissten zurückzubringen.
Deshalb ist die Münchenstift nicht der einzige Träger, der auf Bushalte-Attrappen setzt. Auch das Fritz-Rupprecht-Heim in Fürth hat seit 14 Jahren direkt vor dem Haupteingang ein Bushäuschen aufgebaut. Ganz nostalgisch, mit einem großen grünen H auf rundem gelbem Hintergrund und etwas vergilbtem Fahrplan. Diese Retro-Optik erkennen Demenzkranke wieder, sie erinnert sie oft an ihre Jugend oder ihr Arbeitsleben. Wenn sich ein Bewohner dort hinsetzt und auf einen Bus wartet, der nie vorbeifährt, kommt irgendwann eine Pflegekraft, verwickelt die Person in ein Gespräch oder geht mit ihr spazieren und irgendwann zurück ins Haus.
„Demenzkranke leben oft nicht in unserer Realität“, erklärt Susanna Saxl-Reisen von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. Meist sei das Langzeitgedächtnis noch besser ausgeprägt, sie denken, sie müssten in die Arbeit oder ihre Kinder zur Schule bringen. „Es gibt immer einen Grund dafür, warum sie sich auf den Weg machen“, sagt Saxl-Reisen. Aber es komme nicht selten vor, dass das Ziel schnell wieder vergessen ist. Deshalb funktionieren Bushalte-Attrappen so gut.
Armin Heil ist Geschäftsführer der ambulanten Krankenpflege Tutzing im Kreis Starnberg. Auch unter seinen Tagespflege-Gästen sind viele Demenzkranke. Eine ganze Bushaltestelle kann er für die Einrichtung nicht organisieren – dafür hat er einen anderen Weg gefunden, seine Gäste zu beschützen, ohne sie einzusperren. „Wir haben Gaderobenspiegel an die Türen nach draußen gehängt“, berichtet er. Damit machen er und seine Kollegen gute Erfahrungen. Es gebe auch Firmen, die Haustüren mit einer Tapete bekleben, damit sie für Demenzkranke nicht als Tür zu erkennen sind. In einem Seniorenheim in Berlin werden die Türen sogar aufwendig bemalt, sodass sie auf den ersten Blick wie eine Wand im Raum aussehen. Ein Allheilmittel sei das alles aber nicht, sagt Heil. Trotzdem rät er auch pflegenden Angehörigen dazu, Türen nicht abzusperren. „Die beste Alternative ist, Zeit zu opfern und bei ihnen zu sein.“
Susanna Saxl-Reisen von der Alzheimer Gesellschaft hat noch ein paar andere Tipps. Vorhänge vor den Haustüren zum Beispiel. „Türen und Türgriffe sind oft Trigger für Demenzkranke.“ Türglöckchen könnten helfen, um sofort zu hören, wenn jemand die Wohnung verlässt, rät die Expertin. Sollte es doch dazu kommen, dass orientierungslose Menschen unbemerkt verschwinden, könnten Armbänder mit Name und Telefonnummer hilfreich sein, rät sie. Auch GPS-Tracker sind eine Hilfe, um Demenzkranke zu finden. Allerdings ist ihr Einsatz juristisch knifflig. Demenzkranke dürfen zwar geortet werden, eine Person gegen ihren Willen zurückzubringen wäre aber rechtlich Freiheitsberaubung. „Meist hilft es aber, Betroffenen anzubieten, sie ein Stück zu begleiten und sie so zurück nach Hause zu bringen.“
Auch die Bushaltestellen vor den Heimen sind umstritten. Weil sie den Bewohnern etwas vorgaukeln oder sie auf etwas warten lassen, was nie passiert. Die Münchenstift hat ihre Haltestelle in der Corona-Zeit abgebaut. Heute setzt man auf andere Strategien, berichtet der stellvertretende Heimleiter Aldin Motika. Im beschützten Bereich gebe es Bewohner, die ein Armband tragen. Wenn sie sich einer Tür nähern, verschließt sie sich. Für andere Bewohner bleiben die Türen geöffnet. „Damit haben wir gute Erfahrungen gemacht“, berichtet Motika. „Die meisten drehen sich um, gehen woandershin und sind schnell abgelenkt.“ In den großen Garten könnten sie immer. Außerdem kümmern sich neben den Pflegekräften und Betreuern viele Ehrenamtliche um die Bewohner, begleiten sie zum Beispiel auf Spaziergänge. Die Bushaltestelle ist verschwunden, das Thema ist aber geblieben. Und es wird größer werden. Aktuell leben 270 000 Menschen mit Demenz in Bayern. 2040 werden es laut Prognosen 380 000 sein.