Natalia Aleksieieva am Herzogstand.
Natalia Aleksieieva ist am 7. März 2022 aus Odessa nach München geflüchtet. Sie hat hier eine Wohnung und einen Job gefunden. In ihrer Kolumne berichtet die 29-Jährige über ihr neues Leben in Bayern und über die Nachrichten aus ihrer ukrainischen Heimat. Ihre Texte schreibt sie auf Deutsch.
Vor fast zweieinhalb Jahren bin ich vor dem Krieg in der Ukraine geflüchtet. Doch er scheint mit jedem Tag näher zu kommen. Mein Cousin kämpft nun schon seit Monaten an der Front. Meine Eltern haben ihm vor Kurzem hochwertige Militärausrüstung besorgt, zuverlässiger als die, die von der Armee ausgegeben wird. Neulich wurde mein Cousin ins Krankenhaus eingeliefert. Tage verbrachte er am sogenannten „Nullpunkt“, wie die Frontlinie im Militärjargon heißt. Er erlitt dabei eine Gehirnerschütterung. Seine Kameraden hatten weniger Glück: einem wurde bei der Explosion ein Bein weggesprengt, ein anderer starb auf der Stelle. Von seinen Mitsoldaten sind nur noch wenige da: Viele sind gestorben, einige haben desertiert. Doch mein Cousin sagt: „Ich werde nicht fliehen.”
Er ist Maschinengewehrschütze und bekommt nun viele Anrufe von seinem Kameraden. Sie bitten meinen Cousin, schnell zurückzukommen, um sie abzulösen. In ein paar Tagen wird mein Cousin entlassen und in Richtung Donezk zurückgeschickt. Es ist der heißeste Ort an der Front. Die Russen bombardieren dort ständig, und sie rücken jeden Tag weiter vor. Die Nächte in den Schützengräben sind kalt, die Temperaturen sinken auf 16 Grad. Deshalb bat mein Cousin meine Eltern um gute Thermounterwäsche. Er sagte, dass die neue Schutzweste und die Platten sein Leben gerettet haben.
Und mein Leben in Deutschland ist weiterhin mit Freude und kleinen Alltagswundern erfüllt. Der Sommer war geprägt von Wochenendausflügen in die Berge mit meinem Freund. Mein Lieblingsort ist ein malerischer Berg mit dem stolzen Namen Herzogstand. Aus 1700 Meter Höhe hat man einen herrlichen Blick auf den Walchensee, den Kochelsee sowie auf zahlreiche kleine Seen und Täler. Für den Herbst habe ich mir auch viel vorgenommen. Im Oktober endet meine Probezeit am neuen Arbeitsplatz, und ich werde endlich ein Arbeitsvisum beantragen können. Damit komme ich dem Antrag auf die deutsche Staatsbürgerschaft einen Schritt näher.
Doch trotz all dieser positiven Entwicklungen spüre ich auch hier eine wachsende Unruhe. Die zunehmende Jugendkriminalität und migrantische Gewalt lassen sich nicht übersehen. Auf jeden Fall sage ich mir jeden Tag, dass ich nicht frustriert sein darf, hart arbeiten und jeden freudigen Moment in meinem Leben sammeln und bewahren muss. Und es gibt viele solcher Momente. Neulich rief ich das Finanzamt an, um sicherzustellen, dass meine Steuerzahlung eingegangen ist. Die Mitarbeiterin, die meine Steuererklärungen prüft und die mir anfangs so sehr geholfen hat, alles in den Griff zu bekommen, bestätigte mir, dass ich dem Finanzamt in diesem Jahr nichts mehr schulde. Zum Schluss fügte sie mit einem Lächeln in der Stimme hinzu: „Und ich lese immer noch fleißig alle Ihre Kolumnen.“ Ich habe diese deutsche Frau nie persönlich getroffen und nur zwei Mal mit ihr telefoniert, aber ich bin ihr sehr dankbar und trage sie in meinem Herzen.