Ich bin glückliche Besitzerin eines Literaturkalenders. Alljährlich beschenken mich Freunde oder mein Mann mit diesem Meisterwerk voller Texte und Bilder aus Poesie und Prosa. Sie stehen immer unter einem Motto. Dieses Jahr sind es die „Momente der Sehnsucht“. Man erfährt darüber hinaus, an welchem Tag und in welchem Jahr die berühmten und manchmal etwas weniger bekannten Schriftsteller Geburts- oder Todestag haben. Wöchentlich wird eine herausragende Persönlichkeit näher vorgestellt. In dieser Woche ist es Simone Weil, französische Philosophin jüdischer Herkunft.
Sie starb vor 81 Jahren im englischen Exil an Tuberkulose und wurde nur 34 Jahre alt. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lehrerin und engagierte sich bei der Gewerkschaft für Industrie- und Landarbeiter. Ihr Gehalt hat sie mit Arbeitslosen geteilt. In einem unterrichtsfreien Jahr hat Simone Weil zuerst bei einer Elektro- und einer Metallfabrik, schließlich in der Autofirma Renault gearbeitet. Die Philosophin wollte am eigenen Leib erfahren, wie es Arbeitern und Arbeiterinnen geht. Nicht bloß denken und reden über andere, sondern sie kennenlernen und mit ihnen leben. Wirklich etwas von ihnen wissen.
In meinem Kalender stehen Sätze von Simone Weil, die sich in ihrem sogenannten Fabriktagebuch finden. Sie ist überzeugt, „einer Welt von Abstraktionen entflohen zu sein“ und sich „unter wirklichen Menschen zu befinden – guten oder schlechten, jedoch von einer wirklichen Güte oder Bosheit“. Und schreibt: „Sofern es sie gibt, ist besonders die Güte in einer Fabrik etwas Wirkliches; denn der geringste freundliche Akt, vom einfachen Lächeln bis zur Hilfeleistung, erfordert einen Sieg über die Müdigkeit, über die Lohnbesessenheit, über alles, was bedrückt und dazu verleitet, sich in sich selbst zurückzuziehen.“
Diese Worte haben große Bedeutung. Sie gehen über eine beinharte Arbeitswelt hinaus, die Simone Weil an den Rand ihrer physischen Möglichkeiten gebracht hat. Echte, tiefe Freundlichkeit, aufrichtige Zuwendung zu anderen Menschen kostet etwas: Zeit, Kraft, Ideen. Man muss absehen von sich selbst und dem oder der anderen ganze Aufmerksamkeit schenken. Wer sein Gegenüber versteht, ist offen, voller Verständnis und liebevoller Neugier – frei von Vorurteilen. Simone Weil starb früh, auch weil sie trotz ihrer Krankheit nicht mehr essen wollte als das, was die Bewohner des von den Deutschen besetzten Frankreichs hatten.
Simone de Beauvoir, eine andere große französische Schriftstellerin, Feministin und Lebensgefährtin von Jean-Paul Sartre, sagte über Simone Weil: „Ich beneidete sie um ein Herz, das imstande war, für den ganzen Erdkreis zu schlagen.“ Dafür muss man nicht notwendigerweise sterben. Dafür zu leben, reicht aus.