Gletscher-Eis fürs Münchner Bier

von Redaktion

Dem Bayern war sein Bier schon immer heilig. Gut gekühlt muss es sein. In Zeiten, in denen es noch keinen Kühlschrank gab, eine Herausforderung. Die Münchner Brauer hat das erfinderisch gemacht – sie bezogen ihr Eis direkt vom Gletscher. Bier-Liebhaber mögen das heute vergessen haben, im Salzburger Land hält man das Stück Geschichte aber hoch.

Eine Münchner Kellnerin um das Jahr 1910. © picture alliance

Der Birnbachgletscher im Jahr 1897. Das Eis wurde per Dynamit herausgesprengt. © Bergbaumuseum Leogang

Hermann Mayrhofer (r.) vom Bergbau- und Gotikmuseum in Leogang und sein Nachfolger, Kustos Andreas Herzog, schauen sich die alten Bilder vom Eisabbau an. © Cornelia Schramm

Eine schweißtreibende Arbeit: Im Jahr 1897 verladen die Arbeiter in Leogang das Gletscher-Eis in Eisenbahnwaggons. Die Bahn brachte es nach München. © Bergbau- und Gotikmuseum Leogang

Leogang/München – Hermann Mayrhofer wiegt die Spitzhacke in seiner Hand hin und her. Er grinst und nickt überzeugt: „Mit so was haben wir Leoganger den Münchnern einst das Leben gerettet. Wir haben zuverlässig dafür gesorgt, dass sie ihren Bier-Durscht stillen konnten.“ Die Schulkinder im Örtchen Leogang im Salzburger Land lernen bis heute, dass das kleine Schneefeld da oben in den Steinbergen unterhalb des 2634 Meter hohen Birnhorns mal ein Gletscher war. Und einst trug er sogar den Spitznamen „Biergletscher“.

Mayrhofer ist heute 79 Jahre alt. Wenn er jetzt im Sommer vom Tal zum Birnbachgletscher hinaufschaut, kann er kaum glauben, wie sehr der geschrumpft ist. Er ist zu einem schorfigen Schneefeld, das nur noch zwei, drei Meter dick ist, verkümmert. „Als ich ein junger Bursch war, war er gigantisch groß, sodass wir darauf mit Figln fahren konnten.“ Figl, also Firngleiter, sind ein Mix aus Schneeschuh und Ski. „Vom Birnhorn sind immer wieder Lawinen abgegangen, der Schnee ging nie aus“, erzählt Mayrhofer. Im Sommer konnte die Dorfjugend erst im Birnbachloch, einer kleinen Quelle, baden und dann für Pistenspaß auf den 1200 Meter hohen Gletscher kraxeln.

Nicht nur der Klimawandel hat dem ewigen Eis dort ein gutes Stück Masse geraubt. Als niedrigster Gletscher Europas hat der Birnbachgletscher im 19. Jahrhundert Wirtschaftsgeschichte geschrieben. Lange bevor es Kühlschränke gab, wurde hier eine heute längst vergessene Form des Bergbaus betrieben: Es wurde Eis abgebaut, um Lebensmittel zu kühlen. Und den Birnbachgletscher nahm nicht irgendwer für sich in Anspruch, nein. Es waren die Münchner Brauer, die durch den recht leicht erreichbaren Gletscher ihre Bierkeller versorgt wissen wollten.

Wann genau die Unternehmer an die Haustüren der Leoganger Bergleute geklopft haben, weiß keiner mehr. „Von 1884 bis 1900 hat der Eisabbau hier schätzungsweise stattgefunden“, sagt Mayrhofer. Schon immer hat er sich für die Geschichte seiner Heimat interessiert, war in Leogang Gemeindeamtsleiter, hat viele Artefakte gesammelt und damit das Bergbau- und Gotikmuseum im Ort eröffnet. In dessen Archiv schlummern eine Handvoll Fotografien, die die mühsame Arbeit am Gletscher dokumentieren. Tausend Waggons voll Eis hat die Eisenbahn damals pro Jahr über die 118 Kilometer nach München gekarrt.

Ein Fotograf der Photographischen Kunstanstalt München hat die Arbeiter der Münchner Eiswerke Ortlieb & Edenhofen im Herbst 1897 abgelichtet. „Spannend ist, dass man auf den Fotos auch Arbeiterinnen sieht. Sowohl am Gletscher, als auch bei der Eisverladung im Tal“, erzählt Mayrhofer und greift nach einem der Schwarz-Weiß-Fotos. Tatsache: Da stehen zwei Frauen, eine im schwarzen Mieder, auf einen Eispickel gestützt. Die andere im Dirndl, mit weißem Schurz und Feder-Hut.

100 Männer und Frauen aus der Region haben die Eiswerke damals beschäftigt, wohl als Tagelöhner oder Saisonarbeiter. „Die einfachen Leute arbeiten im Alltagsgewand und waren wohl froh, was dazuzuverdienen“, sagt Mayrhofer. Für das schnelle Geld nahmen sie so manche Gefahr auf sich. Denn oben am Gletscher mussten Schächte und Stollen in zwei bis 15 Meter Tiefe gebohrt werden, um Eisblöcke mit Dynamit herauszusprengen. Dann wurden die Brocken – 100 bis 150 Zentner schwer – auf eine hölzerne Rutsche gehievt. „Und so sausten sie 1,6 Kilometer durch den Ullachgraben ins Tal“, sagt Mayrhofer. „Das laute Poltern soll man noch im Ort gehört haben.“ Per Giselabahn gings nach Wörgl und weiter nach Bayern. Ob die Münchner all das wussten, als sie sich damals ihr eiskaltes Bier haben schmecken lassen, lässt sich nicht mehr sagen. Aber Ur-Leoganger wie Mayrhofer haben es sich genau gemerkt.

Im Museum bewahrt Mayrhofer auch den Beweis auf – einen Zeitungsartikel vom 18. November 1897. Die Münchner „Illustrierte Zeitung“ schrieb damals über den Birnbachgletscher: „Wo in anderen Jahren nur stille Ruhe herrschte, wo sonst dem kühnen Bergsteiger nur noch einige Hirtenbuben Auskunft geben konnten, herrscht heuer in den Monaten August, September und Oktober ein rühriges Treiben fleißiger Arbeiter.“ Im Bericht ist von einem Mangel an Eis die Rede – und davon, wie die Münchner Eishändler auf die Idee mit dem „Biergletscher“ gekommen sind.

„Die Vereinigten Münchner Eiswerke, die München seit Jahren durch ihre amerikanischen Eishäuser am Nymphenburger Kanal und durch ihre Eisfabrik System Linde mit Eis versorgen, hatten der schwachen Eis-Ernte schon nachgeholfen, indem sie in den Monaten Februar und März Hunderte von Waggons Eis von Zell am See bezogen und einlagerten. Ebenso wurden am Hopfensee Tausende von Centnern geborgen“, steht im Bericht. „So war der Vorrat gesichert. Die rege Nachfrage der Kundschaft veranlasste aber, dem Gedanken näher zu treten, Eis von den Bergen herabzuschaffen.“

Eis-Mangel macht Brauer erfinderisch

Mayrhofer kennt den Text auswendig. Denn die Original-Zeitung dokumentiert, dass die Eishändler mehrere Gletscher begutachtet hatten. „Es wurden die Gletscher des Arlbergs, des Glocknergebietes und des Feuersteins bei Gossensaß besichtigt“, steht im Bericht. „Die Pläne für deren Ausbeutung wurden entworfen und wieder verworfen, bis sich endlich das durch Lawinen gebildete, vergletscherte Schneefeld am Birnhorn als das für die Ausbeutung am meisten geeigneten Objekt darbot. Die Beförderung des Eiswaggons durch die Bahnen geschah so rasch, dass das Eis, das montags am Birnhorn gewonnen wurde, schon mittwochs in München seinem Zweck zugeführt werden konnte.“ Und dort kühlte es des Münchners liebstes Lebenselixier.

Artikel 1 von 11