Johanna Schwair bei der Arbeit: Die 61-Jährige erstellt Phantombilder für das Landeskriminalamt. © Marcus Schlaf
München – Konzentriert sitzt Johanna Schwair an ihrem Schreibtisch und blickt auf 100 verschiedene Augenpaare auf ihrem Bildschirm. Rund, schmal, klein, groß. Sie wählt ein Paar aus und zieht es ins Gesicht der Vorlage. Nun ist die Nase dran. Sie probiert eine aus, setzt sie unter die Augen. Das könnte passen.
Johanna Schwair hat keinen leichten Job. Sie muss Menschen abbilden, die anderen etwas angetan haben. Wenn in Südbayern ein Verbrechen passiert und ein Phantombild gebraucht wird, landet der Fall meist auf ihrem Schreibtisch beim Landeskriminalamt. Die 61-jährige Münchnerin ist Phantombildzeichnerin und darauf spezialisiert, aus manchmal vagen Erinnerungen präzise Bilder zu erstellen. Wie schafft sie es, den Phantomen ein Gesicht zu geben?
Damit Schwair überhaupt ein Phantombild erstellen kann, müssen sich die Zeugen ausreichend an den oder die Täter erinnern. Augen, Nase und Mund sind dabei besonders wichtig. Die Polizei probiert es aber auch, wenn Zeugen nur zwei Gesichtsmerkmale gut in Erinnerung haben. Dann empfängt Schwair die Menschen in ihrem Büro an der Mailingerstraße. Ein aufgeräumter, heller Raum mit einem großen weißen Schreibtisch in der Mitte und einer gemütlichen Couch an der Wand. Der Raum strahlt Ruhe aus, genau wie Schwair selbst. Sie ist eine warme, herzliche Frau, in deren Gegenwart man sich sofort wohlfühlt – sie ist längst nicht so ernst, wie ihr Beruf vermuten lässt.
Wenn Zeugen zu ihr kommen, ist das Wichtigste, eine angenehme Atmosphäre zu schaffen, sagt Schwair. Oft bietet sie erst mal einen Kaffee oder Tee an und kommt mit ihnen ins Gespräch. Manchmal sind die Zeugen verängstigt, oft nervös. Und einige haben Schlimmes erlebt. Ein sanfter Einstieg ist dann wichtig. Denn unter Stress erinnert sich niemand gut.
Erst mal muss Schwair ein Gefühl für den Täter bekommen. Und dafür, wie es den Zeugen geht. Schwair bittet sie, ihr zu schildern, was sie erlebt haben. Oft ergeben sich daraus schon relevante Merkmale für das Phantombild. Die Zeugen sitzen auf einem Stuhl neben Schwair und schauen mit ihr auf zwei große Bildschirme. Zeichenblock und Stift gibt es nicht. Nur die Tastatur und ein kleines Grafiktablett – denn Schwair arbeitet mit Photoshop und speziell gefertigten Bildvorlagen.
Für die Rekonstruktion folgt sie einem bestimmten Ablauf: Sie fängt mit der Kopfform an. Dann folgen Augen, Nase, Mund – pro Körperpartie gibt es fast 1000 Vorlagen zur Auswahl. Je nach Beschreibung des Zeugen wählt sie aus, fügt hinzu: eine Kappe vielleicht, einen Bart oder schmalere Augen. Manche Bilder werden präziser als andere, es hängt eben von der Erinnerung der Zeugen ab. Ein Phantombild, sagt Schwair, ist nicht zu verwechseln mit einem Porträt. Es ist auch kein Foto. „Der Typ muss stimmen“, sagt die Expertin.
Das ist der eigentliche Ablauf. Aber aus Erfahrung weiß Schwair: Es ist wichtiger, die Zeugen erzählen zu lassen. „Mitgefühl zeigen und nicht unterbrechen“ – das ist ihr oberster Grundsatz. So erinnern sich Zeugen präziser, manchmal fallen ihnen vergessene Details ein. Wenn der Zeuge erschrickt und den Täter auf dem Bildschirm erkennt, weiß Schwair: Das Phantombild ist gelungen. Dann ist ihre Arbeit getan.
Ein Bild zu erstellen kann Stunden dauern, oft brauchen Zeugen zwischendurch eine Pause. Für viele ist diese Situation sehr belastend, einige sind traumatisiert. Selten kommt es vor, dass Schwair eine Zeichnung abbrechen muss. Dann versucht sie es an einem anderen Tag noch mal. Als Phantombildzeichnerin braucht Schwair also nicht nur zeichnerische Fähigkeiten, sondern vor allem Einfühlungsvermögen und Empathie.
Eine spezielle Ausbildung zur Phantombildzeichnerin gibt es in Bayern nicht. Schwair war lange als Grafikdesignerin tätig. Als sie die ausgeschriebene Stelle als Phantombildzeichnerin entdeckte, wollte sie eine berufliche Veränderung. Sie bewarb sich und wurde tatsächlich genommen. Das war vor 10 Jahren. Sie ist ein kreativer Mensch, malt gerne und liebt eigentlich Farben. Jetzt besteht ihr Alltag zu einem Teil aus düsteren, schwarz-weißen Phantombildern. Davon erstellt sie 15 bis 20 im Jahr. Der Beruf reizt sie vor allem wegen dem intensiven Kontakt zu anderen: „Ich interessiere mich für Menschen.“
Sie hat viele Dutzend Phantombilder gezeichnet in den vergangenen zehn Jahren. Und sie hat viel Dankbarkeit erlebt. Manchmal kann sie spüren, wie den Menschen, die bei ihr sitzen, eine Last von den Schultern fällt, wenn das Bild fertig ist. Für Johanna Schwair ist ihr Auftrag damit abgeschlossen. Ob ein Fall tatsächlich aufgeklärt wird, erfährt sie selten.