Im Kunst-Atelier von Elisabeth Seidel (2.v.l.) kommen Alzheimer-Erkrankte und Angehörige zum Malen zusammen.
Seine Erinnerungen hält Axel Dürr mit dem Pinsel fest. Er ist vor fünf Jahren an Alzheimer erkrankt. © Martin Hangen (2)
München – Axel Dürr (Name geändert) taucht seinen Pinsel in das Grün, das er gerade angemischt hat und verteilt es auf dem weißen Papier. Heute wird der Ammersee gemalt, samt Kloster Andechs. Dort war er vor Kurzem mit seiner Frau Ute. Das Wasser glitzerte so herrlich in der Sonne, die grünen Wiesen sahen so schön aus, dass Axel Dürr nichts davon vergessen will. Manchmal passiert ihm das trotzdem – noch bevor er ein Motiv malen kann. Deshalb hat er sich einen Skizzenblock zugelegt. Der ist sein Gedächtnis für alles Schöne. Für Ausflüge, die Blumen im Garten, auch seine Frau hat er gezeichnet. Er notiert sich jedes Mal das Datum. Und manchmal schreibt er auch die Farben dazu. Denn einmal hatte er vergessen, wie schön dunkelrot die Tulpen waren. Er hat sie aus Versehen gelb gemalt – und zu Hause gemerkt, dass ihn sein Gedächtnis im Stich gelassen hatte.
Axel Dürr bekam vor fünf Jahren die Diagnose Alzheimer. Seiner Frau war die Wesensveränderung als erstes aufgefallen. Sein Kurzzeitgedächtnis wurde immer schwächer. Es fiel ihm schwerer, ihr von den Büchern zu erzählen, die las. Die beiden suchten Hilfe – und erfuhren von der Alzheimer Gesellschaft in München. Dort können sich Familien kostenlos beraten lassen. Die Dürrs fanden dort weit mehr als gute Ratschläge. Es werden viele Aktivitäten für Alzheimer-Erkrankte und deren Angehörige angeboten. Gedächtnistraining, Singen, Führungen, Vorträge. Das QiGong besuchen sie gemeinsam. Ins Kunst-Atelier geht Axel Dürr allein. Dort werden aus seinen skizzierten Erinnerungen bunte Bilder.
In den Räumen der Alzheimer Gesellschaft zieren viele seiner Werke die Wände. Elisabeth Seidel, die das Kunst-Atelier betreut, mag Axel Dürrs Bilder. „Er malt immer die Schatten mit“, sagt sie, während sie Zeichnungen betrachtet, die neben dem Tisch hängen, auf dem sie bereits Pinsel, Farben, Buntstifte und Papier verteilt hat. Manchmal ist der große Tisch voll, manchmal kommen nur drei oder vier Menschen. Einige von ihnen auch mit Angehörigen. Denn nicht alle kommen so wie Axel Dürr noch ohne Hilfe zurecht.
Elisabeth Seidel hilft, wo sie gebraucht wird. Und sie sorgt dafür, dass sich alle wohlfühlen. Sie verteilt Kaffee und Kekse, legt eine CD ein. Dieses Mal Bob Dylan. Axel Dürr sing leise mit, während er den Ammersee malt. „And you better start swimmin‘ or you‘ll sink like a stone, for the times they are a-changin‘.“ Schwimmen lernen, statt unterzugehen, wenn sich die Zeiten ändern – das versuchen er und seine Frau auch. Und bisher gelingt es ihnen gut. „Die Angebote der Alzheimer Gesellschaft haben unserem Alltag Struktur gegeben“, sagt Ute Dürr. Manchmal schafft sie es, die Zeit, in der ihr Mann malen geht, nur für sich zu nutzen. Sie hat in den Gruppen eine Frau kennengelernt, deren Mann ebenfalls erkrankt ist. Sie ist eine Freundin geworden. Und in der „Trotz Demenz“-Gruppe haben sie und ihr Mann gelernt, dass die Diagnose nicht bedeuten muss, keine Lebensqualität mehr zu haben. „Die Ratschläge sind eine große Hilfe, die Empathie tut gut“, sagt Ute Dürr.
Oft hat sie das Gefühl, ihr Axel kann mit all dem besser umgehen. „Er ist so gelassen und heiter – das ist eine Gnade für uns“, sagt sie. Denn sie selbst macht sich immer viele Sorgen, was auf sie zukommen wird. Oft ist sie erschöpft, weil sie jetzt für zwei denken muss. Und dann ist sie wieder überrascht, was ihr Mann alles nicht vergisst. Die Dürrs haben es gelernt, aus jedem Tag etwas zu machen. Wenn ihnen das gut gelingt, entsteht danach eine neue Skizze im Buch.
Früher war der 79-Jährige Berufsschullehrer, er hat Siebdruck unterrichtet. Darüber kann er viel berichten, er freut sich jedes Mal, wenn Elisabeth Seidel ihn danach fragt. Es ist schon seltsam mit den Erinnerungen, findet er. Sogar die Gedichte aus seiner Schulzeit kann er noch auswendig. Und die Lateinvokabeln, die er sich früher nie merken konnte. Dafür fallen ihm Namen oder Farben nicht mehr ein. Axel Dürr hat gelernt, diese Momente wegzulächeln. Dann bilden sich um seine wachen, hellblauen Augen viele, kleine Lachfalten. Das ist seine Art zu schwimmen, um nicht unterzugehen.