Ordner voller Schicksale: Vor zweieinhalb Jahren räumte Claus Fussek sein Büro. © Marcus Schlaf
Seine große Leidenschaft: Dauerkarteninhaber Claus Fussek (l.) mit seinen Söhnen Florian und Jonas im Sechzger-Stadion.
Jahrzehntelang war Claus Fussek Ansprechpartner für verzweifelte Pflegebedürftige oder deren Angehörige. Vor zweieinhalb Jahren hat er sein Büro leergeräumt und sich in den Ruhestand verabschiedet. Das bedeutete damals, einen Ort für hunderte Ordner mit hunderttausenden Hilferufen zu finden. Damals wusste der 71-Jährige selbst nicht, ob es ihm gelingen würde, das Thema Pflege jemals hinter sich zu lassen.
Was ist mit den vielen Ordnern passiert, in denen Sie jahrzehntelang Pflege-Schicksale gesammelt haben?
Es waren weit über 50 000 Schicksale, die sich in meinem Büro angehäuft hatten. Ich hätte diese Ordner niemals wegschmeißen können. Etwa 80 Prozent davon sind inzwischen bei der Robert-Bosch-Stiftung in Stuttgart – sie will diese Fälle wissenschaftlich aufarbeiten. Einige habe ich behalten – vor allem die Schicksale, die mich lange beschäftigt haben. Einige dieser Menschen rufen mich heute noch an, weil sie mit dem, was sie in Heimen erlebt haben, nicht fertig werden.
Wie häufig bekommen Sie noch Anrufe zu aktuellen Fällen?
Die werden weniger. Aber nicht, weil es weniger Probleme gibt. Im Gegenteil. Noch immer sind viele Angehörige hilflos, weil es keine Alternativen gibt. Deshalb trauen sie sich nicht, sich im Heim zu beschweren. Ich werde noch oft auf der Straße angesprochen. Die Geschichten, die ich höre, ähneln sich sehr.
Das klingt, als könnten Sie das Thema Pflege niemals hinter sich lassen.
Ich glaube nicht, dass ich das jemals könnte. Ich werde mir immer die Zeit nehmen, um zuzuhören. Das sehe ich auch als meine Verantwortung. Die Leute sind so dankbar, wenn sie mit jemandem reden können. Viele haben das Gefühl, dass das Pflegethema aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwindet – es sei denn, man ist persönlich betroffen.
Hatten Sie mal versucht, das Thema hinter sich zu lassen?
Ich hatte einmal eine Phase, in der ich resigniert habe. Damals habe ich mich gefragt, was ich in all den Jahrzehnten eigentlich bewirkt habe. Es macht mich nachdenklich, wenn ich ein Interview lese, das ich vor 20 Jahren gegeben habe und merke, dass man es heute genauso wieder drucken könnte.
Sind Sie noch in Kontakt mit Politikern?
Leider nein. Es gibt niemanden in der Politik, der sich ehrlich und längerfristig für dieses Thema interessiert. Das Thema wird kollektiv verdrängt – von allen Parteien. Weil sie sich nicht mit Pflegekräften anlegen wollen. Es gibt viel Lob, was für tolle Arbeit Pflegekräfte leisten und viele Worthülsen zum Pflegenotstand, mehr aber nicht.
Wie viel Angst haben Sie vor dem Altwerden?
Ich möchte unseren Kindern eigentlich nicht zur Last fallen, das steht für mich fest. Ich beschäftige mich viel mit dem Thema assistierter Suizid. Es macht mich fassungslos, dass wir es nicht schaffen, in allen Pflegeheimen palliative Strukturen aufzubauen. Und dass es in Hospizen lange Wartelisten gibt.
Wie verbringen Sie Ihre Tage als Rentner?
Das Runterfahren fällt mir schwer. Ich brauche feste Strukturen. Einen Tag pro Woche engagieren meine Frau und ich mich beim Tisch Messestadt, die arbeiten genau wie die Tafel. Das ist eine sehr sinnvolle Aufgabe. Meine Frau würde gerne häufiger verreisen, ich bin eher der Bremser. Mir gefällt regionaler Urlaub mit Wanderungen und Zeit im Garten besser. Wir haben ein 49-Euro-Ticket. Oft fahren wir einfach zum Bahnhof und steigen in den nächsten Zug ein, der kommt. Es ist schön, das Paradies bayerisches Oberland zu entdecken. Meine beiden Söhne Florian und Jonas und ich haben nach wie vor Jahreskarten für die Sechziger – die bleiben meine große Leidenschaft. Und im Januar kommen große Aufgaben auf mich und meine Frau zu: Wir werden das erste Mal Großeltern.
Wie hat Sie der Ruhestand verändert?
(Claus Fussek lässt seine Frau Ute auf diese Frage antworten) Mein Mann ist ein bisschen ruhiger geworden. Inzwischen hat er gelernt, ab und zu nichts zu tun. Er hat mit dem Garten eine neue Passion gefunden. Er kann an keinem Blumengeschäft vorbeigehen, ohne etwas zu kaufen. Aber das Thema Pflege wird ihn immer beschäftigen. Ich hatte gehofft, dass es weniger wird. Aber er kann das nicht loslassen. Dafür ist es viel zu sehr seine Herzenssache.