NATALIAS NEUANFANG

Mein Weg durch zwei Welten

von Redaktion

Natalia Aleksieieva in der Partnachklamm.

Natalia Aleksieieva ist am 7. März 2022 aus Odessa nach München geflüchtet. Sie hat hier eine Wohnung und einen Job gefunden. In ihrer Kolumne berichtet die 29-Jährige über ihr neues Leben in Bayern und über die Nachrichten aus ihrer ukrainischen Heimat. Ihre Texte schreibt sie auf Deutsch.

Der russisch-ukrainische Krieg dauert nun schon 947 Tage. Seit neun Monaten kämpft mein Cousin an der Front. Während dieser Zeit war er an einer Lungenentzündung erkrankt, erlitt eine Gehirnerschütterung durch eine Minenexplosion, wurde in einem Krankenhaus behandelt und kehrte wieder an die Front zurück. Viele seiner Kameraden sind bereits gefallen. Deswegen hat man die wenigen Verbliebenen seiner Brigade jetzt 15 Kilometer landeinwärts von der Kampflinie verlegt. Mein Cousin hofft auf eine Rotation und mehr Personal. Obwohl er bereits das Recht auf Urlaub hätte, wird er nicht freigestellt. Die Truppen sind in verlassenen Häusern in den Dörfern rund um Toretsk untergebracht. Die Bewohner haben nichts zurückgelassen, was die russischen Soldaten hätten nutzen können. Alles ist zerstört: Leitungen wurden gekappt, Wasserhähne und Sanitäranlagen herausgerissen. Mein Cousin versucht, das Haus nicht zu verlassen. Am Himmel sind oft feindliche Aufklärungsdrohnen zu sehen. Sie schweben hoch und können nicht abgeschossen werden. Wenn sie eine Bewegung entdecken, können sie den Abwurf einer gelenkten Luftbombe korrigieren. Mein Cousin schläft in einem Schlafsack und ist ständig erkältet, weil es so kalt und feucht ist. Sobald seine Brigade Verstärkung erhält, werden sie alle zurück an die Front geschickt. Die Front verschiebt sich langsam zu unseren Ungunsten.

Meine Eltern hören schon lange keine Explosionen mehr, nur der Strom fällt täglich für ein paar Stunden aus. Wenn ich meinen Vater frage, wie es ihm geht, antwortet er: „Immerhin dauert der Krieg bald drei Jahre. Nichts kann uns mehr überraschen oder erschrecken. Der Mensch ist ein merkwürdiges Wesen – er gewöhnt sich an alles, auch wenn der Krieg einen ein wenig verrückt macht, aber so ist es eben.“

Zwischen diesen Nachrichten aus der Heimat nimmt mein glückliches Leben in Deutschland eine beinahe surreale Dimension an. Als ich dachte, bereits alles gesehen zu haben, was die wunderschöne Landschaft Bayerns zu bieten hat, machte ich einen Ausflug zur Partnachklamm. Ich wanderte zwischen den steilen Felswänden, bewunderte die herabstürzenden Wasserfälle und die kleinen Regenbögen, die immer wieder im Licht erschienen. Ich habe erfahren, dass ich in Deutschland Anspruch auf eine Ganzkörperuntersuchung habe, die von der Krankenkasse übernommen wird. Der Arzt nahm sich sogar die Zeit, mit mir ausführlich über eine Vorsorgevollmacht zu sprechen. Im Gegensatz zu meinem Heimatland hat in Deutschland der Schutz des menschlichen Lebens höchste Priorität. Ich fühle mich hier sicher, bereite mich darauf vor, ein Arbeitsvisum zu beantragen, und verbessere mein Deutsch, um eines Tages anderen diese Sprache beibringen zu können. Es ist eine seltsame Erfahrung – die Kluft zwischen dem Leben, das ich in Deutschland führe, und dem, was in meinem Heimatland geschieht. Doch irgendwo zwischen diesen beiden Welten finde ich meinen Weg, Schritt für Schritt.

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