19 Stunden in der Hölle

von Redaktion

Dafna Gerstner hat das Hamas-Massaker in Israel überlebt

Ein zerstörtes Haus im Kibbuz Be‘eri. Die Terroristen haben den Ort weitgehend in Schutt und Asche gelegt. © Jutrczenka/APA

Beim Gedenkakt in der Synagoge wurde Charlotte Knobloch von Markus Söder und Ilse Aigner zu ihrem Platz geleitet.

Dafna Gerstner hat den Angriff der Hamas überlebt – aber ihren Bruder und ihre Freundin verloren. © Martin Hangen (2)

München – Die Sonne ging gerade eben über der israelischen Wüste Negev auf, als Dafna Gerstner von einem lauten Knall geweckt wurde. Ein Raketenangriff, viel lauter, viel bedrohlicher, als es sonst im Kibbuz Be’eri üblich ist. Dann Schreie. Panisch weckte Gerstner ihren Bruder Eitan, der zur Sicherheitswacht des Kibbuz gehörte. Eitan verließ das Haus, Dafna und ihr Mann blieben im Schutzraum seines Hauses zurück. 19 Stunden lang harrten die beiden darin aus. Ohne zu wissen, dass die Hamas-Terroristen an diesem Tag 102 Bewohner des Kibbuz systematisch massakrierten. Auch ihren Bruder Eitan.

Die Mitglieder des Kibbuz setzten sich für Frieden ein

Genau ein Jahr später steht die 40-Jährige in der Münchner Synagoge Ohel Jakob und spricht über diese 19 grausamen Stunden. Vor ihr sitzen Gemeindemitglieder, Rabbiner, Journalisten, die bayerische Spitzenpolitik. Zuvor haben bereits prominente Stimmen wie Bayerns Ministerpräsident Markus Söder und Landtagspräsidentin Ilse Aigner das Wort ergriffen, um der Opfer des Hamas-Überfalls zu gedenken. Doch greifbar wird die Trauer erst, als Dafna Gerstner von ihrem persönlichen 7. Oktober erzählt.

Die Frau mit den Locken und der runden Brille lebt seit 13 Jahren in München, doch der Kibbuz Be’eri ist ihre Heimat. Vom Fenster im Dachgeschoss ihres Elternhauses konnte man den Gazastreifen sehen. „Die Mitglieder des Kibbuz haben an Frieden mit den Palästinensern geglaubt und sich aktiv dafür eingesetzt“, erzählt Gerstner. „Für mich war es ein großes Privileg, dort aufzuwachsen.“ Im Herbst 2023 reiste sie mit ihrem Ehemann nach Israel, um ihre Familie zu besuchen. „Die ersten zwei Wochen unseres Urlaubs waren wunderschön. Wir verbrachten viel Zeit im Garten meines Vaters.“ Es gab keine Anzeichen für eine Eskalation, erinnert sie sich.

Dass Terroristen in den Kibbuz eingedrungen waren, wurde ihr erst nach zwei Stunden in dem Schutzraum klar – weil ihr die Pflegerin ihres Vaters, der direkt am Grenzzaun lebte, eine Nachricht schickte. „Sie schrieb, dass Terroristen ein Feuer gelegt haben. Sie hörte, wie die Terroristen ,Allahu akbar‘ schreien. Und sie hörte die Schreie von Frauen.“

Der Schutzraum war nicht verschließbar. Er wurde für Raketenangriffe, nicht für Terroristen gebaut. Gerstner und ihr Mann rechneten in jeder Sekunde damit, dass die Hamas die Tür eintreten würde. Ihr 43-jähriger Bruder Eitan verteidigte mit gerade mal 25 anderen Freiwilligen den Kibbuz gegen 340 Terroristen. Am Mittag ging ihnen die Munition aus. Die Armee war immer noch nicht da. Eitan und seine Kollegen verloren den Kampf, retteten aber wohl hunderten Menschen aus angrenzenden Vierteln das Leben. Weil sie der Hamas lange genug den Zugang versperrten, sagt Gerstner.

Gerstner erfuhr erst Tage später vom Tod ihres Bruders

Erst am Nachmittag traf die Armee ein. „Unsere Erleichterung war grenzenlos, als wir die Nachricht bekamen“, sagt Gerstner. „Doch es dauerte noch mal drei Stunden, bis die ersten Einsatzkräfte bei uns waren.“ Als sie am Abend nach draußen traten, standen sie mitten in einem Schlachtfeld. „Um uns herum brannten Häuser, direkt neben uns wurde weiter gekämpft.“ Gerstner und ihr Mann stiegen in einen Bus Richtung Totes Meer. Erst einige Tage später erfuhr sie, dass Eitan tot ist. Und dass ihre Freundin, Carmel Gat, als Geisel verschleppt wurde. Ihre Leiche wurde kürzlich aus einem Tunnel in Rafah geborgen.

Mit jedem Tag, an dem die verbliebenen Geiseln in der Gewalt der Hamas sind, wachse ihr Schmerz weiter, sagt Gerstner in der Synagoge. „Sie müssen freikommen. Nicht morgen, nicht übermorgen, nicht irgendwann. Jetzt.“
K. BRAUN

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