KOLUMNE

Der alte Kunde

von Redaktion

Unser Bäcker hat großen Zulauf, vor allem am Wochenende. Die Bewohner des Viertels stehen regelmäßig Schlange. Manchmal hat man 20 Leute vor sich, bevor man die eigene Bestellung aufgeben kann. Die Verkäufer und Verkäuferinnen tun, was sie können, um guten Service zu leisten. Meistens hängt es an den Kunden, wenn es nicht richtig vorangeht. Kürzlich bestellte ein Herr vor mir „zwei Baguettes“. Ruckzuck waren sie eingepackt, und der Kassierer fragte freundlich: „Noch etwas?“ Der Mann fortgeschrittenen Alters hörte oder verstand nicht. „Noch etwas?“, wiederholte der Kassierer. Er musste das viermal tun, bevor der Kunde endlich antwortete: „Nein.“

Während dieses insgesamt recht kargen Dialogs zappelte ich herum. Natürlich ging es mir wieder mal nicht schnell genug. Ich war zwischendrin ganz kurz versucht, den alten Herrn am Ärmel zu zupfen, um der Sache Schwung zu verleihen. Das geduldige Lächeln des Mannes an der Kasse, der den liebenswürdigen Ton bis zum Ende des Kaufs unerschütterlich beibehielt, hinderte mich aber daran einzugreifen. Wenn der ruhig bleiben konnte, musste ich es auch. Außerdem schoss mir eine Geschichte durch den Kopf, die mich seit Kindertagen begleitet. Zu Hause angekommen, habe ich sie gleich hervorgekramt und noch mal nachgelesen.

Sie steht in meinem uralten, stockfleckigen, aber sonst gut erhaltenen Buch mit den Märchen der Brüder Grimm: „Der alte Großvater und sein Enkel“. Darin wird von einem alten Mann erzählt, „dem waren die Augen trüb geworden, die Ohren taub, und die Knie zitterten ihm“. Bei Tisch verschüttete er manchmal etwas oder er sabberte ein wenig. Weil Sohn und Schwiegertochter sich davor ekelten, musste er sich „hinter den Ofen in die Ecke setzen“. Schließlich zerbrach er noch seine Schüssel, weil seine Hände ebenfalls zitterten. Er bekam einen hölzernen Napf. Der vierjährige Enkel besorgte sich daraufhin kleine Bretter und begann zu basteln.

Den Eltern erklärte er: „Ich mache ein Tröglein, daraus sollen Vater und Mutter essen, wenn ich groß bin.“ Peng. Mich hat das als kleines Mädchen gerührt. Ich war selig, dass der Großvater nach dem Lehrstück des Enkels wieder an den Tisch zurückdurfte. Höchste Zeit, mich daran zu erinnern. Nicht jeder und jede, gleich welchen Alters, kann mit dem allgemeinen rasanten Tempo mithalten – und muss es auch nicht. Und wenn man selber noch flott unterwegs sein darf, ist das kein Anlass, über andere die Augen zu verdrehen, sondern ein Grund zur Dankbarkeit. Was sagte meine Mutter: „Und wenn du alt wirst wie ‘ne Kuh, lernen kannste immer noch dazu.“ War mal wieder so weit.

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