KOLUMNE

Lebens- geschichten

von Redaktion

An diesem Samstag ist es 40 Jahre her, dass ich zur Pfarrerin ordiniert wurde. Im Isartal war das, im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen. Der Bischof, der mich in mein Amt einsetzte, hieß Kalb. Ein feiner, vornehmer und sehr gebildeter Mann. Als ich noch Monate vorher so krank war, dass ich eigentlich hätte sterben sollen, kam er überraschend bei mir zu Hause vorbeigefahren und besuchte mich. Seine Worte waren behutsam, zart tröstend und von tiefem Glauben geprägt. Nicht einfach ein Amtsträger, sondern ein Seelsorger.

Vor 70 Jahren wurde ich getauft. Das geschah gegen den Willen des schwäbischen Gemeindepfarrers, der mich mit dem Hinweis ablehnte, ich sei ein „Kind der Sünde“. Meine Eltern waren damals nicht verheiratet, das disqualifizierte mich anscheinend für das Sakrament. Die Frau Mama, eine Kämpfernatur, suchte sich einen Vikar, der dem theologischen Nonsens des Vorgesetzten trotzte und mich im heimischen Wohnzimmer taufte. Es gibt ein Bild davon, das ich immer mit mir führe. Pausbäckig stehe ich da, gehalten von meiner Mutter und offensichtlich selig über die eben erhaltene Taufe.

Meine Eltern heirateten kurz vor meiner Konfirmation auch kirchlich – was wiederum der damalige bayerische Landesbischof untersagt hatte. Erneut fand sich ein Pfarrer, der aus besserer Kenntnis der komplexen Lebensgeschichte die beiden dennoch traute. Mit diesen Erinnerungen will ich keiner prinzipiellen christlichen Renitenz das Wort reden. Aber wer ein geistliches Amt innehat, muss sich selbst und das eigene Leben genau anschauen, bevor er sich den Geschichten anderer zuwendet, die sich ihm anvertrauen.

Erst wenn man um eigenes Glück und Leid weiß, um Trauer und Schmerz, Einsamkeit und Liebe, um Jungsein und Altwerden, um den eigenen Glauben und seine Anfechtungen, kann man mit anderen Menschen über ihre Existenz sprechen und das, was sie unmittelbar angeht. Wer meint, man könne Kinder, Frauen und Männer einfach mal so aburteilen, weil sie nicht ins Bild passen, der sitzt einer falschen und selbstgerechten Sicherheit auf. Es darf keine geistliche Missachtung der je und je unverwechselbaren Biographie eines Menschen geben – und sei sie noch so fragmentarisch, bruchstückhaft.

In wenigen Tagen wird der Reformation und ihrer biblischen Einsichten gedacht. Zu ihnen gehört vorrangig die Gewissheit, dass jeder Mensch unendlichen Wert vor Gott hat – allein aus Gnaden und nicht, weil er oder sie eine vermeintlich glänzende Lebensbilanz vorzuweisen hat oder eine fremde Instanz ihm das bescheinigt. In dieser Zuversicht kann man Existenzen miteinander respektvoll deuten, Erfolge wie Schuld beim Namen nennen, die Richtung beibehalten oder Kurskorrekturen vornehmen, neuen Raum gewinnen und wieder frei atmen. Das ist allen Menschen zu gönnen.

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