Von Landwirtschaft und Kirche geprägt war das Leben in Bayern um 1910. Das hat sich gründlich geändert. © imago
München – Im Februar 1909 überlieferte die kleine Gemeinde Kirchensur im damaligen Königlichen Bezirksamt Wasserburg 14 Seiten mit einer dichten Beschreibung über die damalige Alltagskultur. „In hiesiger Gegend“, hieß es darin, „wird während des Tages fünfmal gegessen.“ Zwischen sechs und halb sieben die Morgensuppe, um 9 Uhr Frühstück, dann Mittagsmahl, eine weitere Mahlzeit um drei Uhr nachmittags und das Abendmahl um sieben Uhr abends.
Lang und breit ließ sich der Berichterstatter über Sitten und Gebräuche aus, über Nikolaus („meist macht ihn der Nachbar“), Palmsonntag und andere kirchliche Feiertage und mit teils heute seltsam anmutenden Details – „zu Lichtmeß bekommen die Mägde einen Wachsstock“. Der Bericht schloss mit in der Gegend gebräuchlichen Dialektausdrücken und offenbar unausrottbaren Legenden: „Der Glaube an Truden und (…) an Hexen, welche Kühe ausmelken, besteht noch.“
Adressat des Berichts war der Bayerische Verein für Volkskunst und Volkskunde, der 1908 eine groß angelegte Erhebung über die Alltagskultur gestartet hatte. Aus 598 Orten in ganz Bayern liefen Daten und Beschreibungen über Bräuche, Nahrung, Kleidung, Wohnung und Mundart ein. Fast 120 Jahre später startet der Bayerische Landesverein für Heimatpflege – so heißt der Verein heute – das Nachfolgeprojekt „Heimat Bayern im Wandel“: Vier Interviewer, die von der Stiftung „Mensch und Schöpfung – Otto und Therese Stumpf“ finanziert werden, sollen drei Jahre lang in ganz Bayern ausschwärmen und die heutige Alltagskultur dokumentieren.
„Wir wollen ein möglichst breites Spektrum abdecken“, sagt Michael Ritter, der für den Landesverein das Projekt betreut. Beim ersten Projekt hätten vor allem schreibkundige Personen mitgemacht – Lehrer, Pfarrer und Bürgermeister. Die Erhebung jetzt ist breiter angelegt: Aus möglichst vielen Altersgruppen, Berufen und Milieus sollen die Interviewten stammen: Handwerker sind ebenso gefragt wie Landwirte, Migranten und Akademiker, Großstädter ebenso wie Dorf-Bewohner. Mit dem Projekt solle die „kulturelle Vielfalt“ und generell der „Wandel in Bayern“ erfasst und für zukünftige Forscher-Generationen bewahrt werden, sagt Rudolf Neumeier, Geschäftsführer des Landesvereins.
Was ändert sich, was bleibt? Das ist die spannende Frage. Auffällig an den Berichten damals ist die doch starke Orientierung an kirchlichen Gebräuchen, die das Jahr rhythmisierten – bis hin zu dem Brauch, dass das Gesinde nur an Weihnachten, Lichtmeß, Georgi, Jakobi und Micheli wechselte, wie es in dem 16-seitigen Bericht aus Altomünster (heute Kreis Dachau, damals Bezirk Aichach) hieß. Das dürfte heute anders sein.
Wetterregeln treiben Meteorologen fast zum Wahnsinn
Ebenfalls erstaunlich: Teils seitenweise wurden damals Wetterregeln dokumentiert, die heutige Meteorologen wohl fast in den Wahnsinn treiben würden („Wenn‘s Gras wächst im Januar, wächst‘s schlecht das ganze Jahr“). Manches Wissen von früher dürfte auch unwiederbringlich verloren sein – Altomünsterer Kinderspiele wie „Kneißl und Flecklbauer“, „Hex im Keller“ oder „Ratschkathln“ kann man noch nicht einmal googeln. Immerhin sind andernorts, etwa im Bericht des Lehrers Strobl aus dem schwäbischen Oxenbronn (Günzburg), kurze Spiel-Beschreibungen überliefert.
Die Ausgangslage sei heute durchaus vergleichbar mit der Motivation, die damals den Germanisten Friedrich von der Leyen (1873-1966) und den Volkskundler Adolf Spamer (1883-1953) zu der sogenannten Rundfrage motiviert hatte, sagt Ritter. Damals war der Wandel in Bayern greifbar, die Industrialisierung veränderte das Leben rasant. Ritter spricht von „Transformationsprozessen“, die es heute natürlich auch gibt. Auch das Unbehagen über Veränderungen ist wohl geblieben.
Nicht zufällig, sagt Ritter, entstanden zur Zeit der ersten Umfrage, sozusagen als Gegenbewegung traditionsbewahrende Vereine, neben dem Landesverein (1902) etwa der Bund Naturschutz (1913), zahlreiche Trachtenvereine und auch der Verband der bayerischen Geschichtsvereine (1906). Die damals nach der „Rundfrage“ eingegangenen Berichte sind erhalten geblieben und über das Portal Bavarikon online abrufbar – nicht immer ist aber die Handschrift leicht zu entziffern.
DIRK WALTER
Wer teilnehmen will
kann sich unter www.heimat-bayern.de/Umfrage.html melden