In kleine Körbchen sortiert Jörg vor. Danach kommen die Sterbebilder in Ordner und Kästen in ihrem Archiv.
Die Sterbebilder des Kaiserpaares Sisi und Franz Joseph hat Jörg im Internet für je 30 oder 40 Euro gekauft.
Das Sterbebild von Anton Willibald aus Lenggries, er stürzte beim „Edelweißpflücken“ in den Tod.
Zwei ihrer 650 000 Sterbebilder hält Sammlerin Irmgard Jörg in der Hand. Das linke zeigt die Streicherbäuerin Anna Beil. © Marcus Schlaf (4)
Lippertshofen – Irmgard Jörg kannte Anna Beil nicht. Der Tod der Bäuerin liegt schon 105 Jahre zurück – doch Jörg rührt er zu Tränen. Die 68-Jährige sitzt in ihrem Haus in Lippertshofen im Kreis Eichstätt und hält Beils vergilbtes Sterbebild in der Hand. Ihr Zeigefinger fährt über den eingerissenen Rand. Die Bäuerin, fesch im Trachtengwand, blickt sie direkt an. „Das ist eins meiner liebsten Stücke, weil es mich so berührt“, sagt Jörg. „Es ist so abgegriffen. Jemand muss es ganz oft in der Hand gehalten und für Anna Beil gebetet haben.“
Jörg liebt das Bildchen auch, weil es so viel über das Leben der Verstorbenen erzählt. Die Streicherbäuerin von Großeichenhausen starb nach kurzer Krankheit am 20. Februar 1919 im Alter von 42 Jahren. Soweit keine ungewöhnlichen Angaben, aber da steht noch mehr: „Sieben Kinder stehen weinend um das Grab. Mit der Mutter sank all ihr Trost hinab, der Vater weinet mit und spricht: Sie war unser Alles, oh vergesset sie nicht.“ Nachdem Jörg die Worte laut vorgelesen hat, trinkt sie einen Schluck Wasser gegen den Kloß im Hals. „Unglaublich, da hat man sofort ein Bild vor Augen.“
Und weil hinter jedem Sterbebild ein ganzes Leben steckt, macht Jörg es sich seit 25 Jahren zur Aufgabe, möglichst viele von ihnen zu sammeln. 650 000 Sterbebilder verwahrt sie aktuell in ihrem Haus. In einem Raum, in acht deckenhohen Regalen voller Ordner und Kisten. Laut Jörg ist es die größte Privatsammlung in Bayern. Die meisten „Buidl“, wie die gebürtige Vohburgerin sagt, stammen von hier. Aber viele kommen auch aus aller Welt, aus dem Rheinland, aus Hamburg, sogar aus Indien. Das älteste Bild stammt von 1809, das aktuellste ist ein paar Tage alt.
Jörg sortiert nach Kategorien. Niederbayern, München, Altötting, Österreich, Soldaten, Adel oder Prominente heißen die etwa. Aber bei der Hüterin der Sterbebilder trudeln fast jede Woche Briefe und Pakete ein. Mal kommen drei neue Sterbebilder an, mal 2000. „Ihre Besitzer schenken sie mir, damit ich sie archiviere“, sagt Jörg, die jedes einzelne Bild mit Vorder- und Rückseite per Scan digitalisiert, mit einer Nummer versieht und Name, Geburts- und Sterbetag, Geburts- und Wohnort sowie Beruf in ihre Datenbank einträgt.
Dort findet man auch unzählige bekannte Namen wie Franz Beckenbauer, Ellis Kaut, „Lolita“ Edith Einzinger, Gustl Bayrhammer, Magier Siegfried Fischbacher und Lady Di. Und auch die Sterbebilder des legendären Kaiserpaars Sisi und Franz Joseph I. sowie die der Volksschauspieler Lisl Karlstadt oder Ferdinand „Weiss Ferdl“ Weisheitinger.
Jörgs Sammler-Herz hängt aber an den einfachen Leuten, an Anton Willibald aus Lenggries etwa. Der 24-Jährige hat seinen Einsatz im Ersten Weltkrieg überlebt, stürzt aber am 15. August 1923 „beim Edelweißpflücken in seinen geliebten Bergen“ in den Tod. Auf seinem Sterbebild steht: „Zum Kirchhof trägt man ihn weinend. Aus der treuen Freunde stillem Kreis bringt jeder ihm das letzte Edelweiß.“ Da sind sie wieder, die Bilder im Kopf.
Menschen, die nach ihren Ahnen forschen, aber auch Wissenschaftler wenden sich an Jörg. Auch der Landesverein für Familienkunde arbeitet mit ihrer Sammlung. Als sie vor 25 Jahren begann, nach ihren Vorfahren zu graben, entfachte das ihre Sammelleidenschaft: „Wenn Sterbebilder weggeworfen werden, könnten doch die Verstorbenen für immer vergessen sein.“ Längst hat sie sich darum gekümmert, was passiert, wenn sie und ihr Mann Anton mal nicht mehr sind. Nach ihrem Tod geht die Sammlung samt Datenbank an das Erzbistum München und Freising. Ein Vertrag regelt: Kein einziges Buidl darf aussortiert werden.
Natürlich wünscht sich Irmgard Jörg auch mal ein Sterbebild für sich. Ein Entwurf steht schon. Vier Fotos will sie drucken – eines zeigt sie als Kind, eines als junge Frau, eines als Mutter und eines heute. „Dazu kommt ein Spruch, von dem ich hoffe, dass er inspiriert“, sagt sie. Was genau da steht, bleibt aber ihr Geheimnis. Etwas Inniges, kein 08/15-Gedicht. „Ähnlich wie ein Grab soll das Sterbebild doch dabei helfen, den Tod eines geliebten Menschen zu verarbeiten.“
CORNELIA SCHRAMM