„Diesen Tag kann ich nicht vergessen“

von Redaktion

München – Als sie den Gerichtssaal verlässt, bricht alles aus Sybille P. (Name geändert) heraus: Angst, Anspannung, Wut – und auch die Erleichterung. „Jetzt ist es geschafft“, sagt sie zu ihrem Freund. „Endlich.“

Am 18. Oktober 2023 war die Lokführerin Opfer einer brutalen Attacke geworden: Ein Fahrgast hatte sie am Tutzinger Bahnhof mit der Faust niedergestreckt und ihr das Gesicht zertrümmert. Wie dramatisch die Attacke war, wird erst vor Gericht wirklich klar: Augenhöhle und Kiefer von Sybille P. waren gebrochen, das Jochbein sogar mehrfach. „Bis heute ist meine linke Gesichtshälfte taub“, sagt die 54-Jährige.

Gefasst spricht Sybille P. über den Tattag, an dem sie für die Werdenfelsbahn im Einsatz war. „Wir sind in Weilheim losgefahren, in Tutzing sollte ich einen Zug ankuppeln.“ Währenddessen gab es Stress im Abteil: „Eine Zugbegleiterin bat um Hilfe, weil sich ein Fahrgast nicht kontrollieren lassen wollte.“ Rahim R., der Angeklagte, beleidigte und bedrohte die Kollegin, stieg aus und ging an der Fahrerkabine vorbei. „Ich stellte ihn zur Rede, weil ich mich für meine Fahrgäste verantwortlich gefühlt habe. Er spuckte mich dann zweimal an“, schildert Sybille P.

Warum ging sie dem rund 1,90 Meter großen, beleibten Mann noch am Bahnsteig nach? Über die Frage des Gerichts denkt P. lange nach. Dann sagt sie: „Ich dachte, wenn jemand im Zug Leute bedroht, dann will keiner mehr mitfahren. Deswegen bin ich hinterher und wollte ihn aufhalten.“ Was danach passiert, verfolgt sie bis heute: Der Serbe schlug ihr mit voller Wucht ins Gesicht. „Man hat an den Verletzungen später gesehen, dass er mit der Faust zugeschlagen hat. Es handelte sich um einen Knickbruch. Ich bin richtig umgerissen worden und seitlich nach hinten aufgeschlagen.“

Im Schock sammelte Sybille P. noch ihre Brille aus dem Gleisbett auf – was verboten ist. „Ich stand unter Schock“, sagt sie. P. ging zurück ins Führerhaus. Erst dann rief sie die Polizei. Später wurden ihr Titanplatten ins Gesicht eingesetzt. „Ich bin seither nie wieder Zug gefahren, weder als Lokführerin noch als Fahrgast. Meinen Beruf kann ich nicht mehr ausüben.“ Mittlerweile arbeitet P. als Krankenschwester. Eine Trauma-Therapie half ihr zurück in den Alltag.

„Diesen Tag werde ich nie vergessen“, sagt Sybille P. Die Entschuldigung von Rahim R. nimmt sie an. „Ich hege keinen Groll“, sagt sie. Dem Schläger drohen mehrere Jahre Haft. Übermorgen soll das Urteil fallen.
A. THIEME/A. WALSER

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