Es bleiben Bilder – und viele Fragen: Christian L. blättert durch ein Album mit Fotos seiner Mutter. © kna
Allein mit vielen Gedanken: Christian L. spaziert oft zu einem Wegkreuz in Kirchseeon, um über den Suizid seiner Mutter nachzudenken. © kna
Ostercappeln/Kirchseeon – Christian L. ringt um Worte. Seine Mutter hat sich vor wenigen Tagen das Leben genommen. Ihr assistierter Suizid traf ihn unvorbereitet. „Ich habe diesen Tag irgendwann in ferner Zukunft erwartet“, sagt er. Denn Luise L. hatte keine lebensbedrohliche Krankheit. Warum wollte sie trotzdem sterben? Und warum ging alles so schnell?
Obwohl sie seit drei Jahren erblindet war, hielt Luise L. ihren um 5 Uhr morgens beginnenden Tagesablauf weiter ein. Sie nahm ihre Mahlzeiten ein, empfing Besucher, ließ sich aus der Zeitung vorlesen und beantwortete Telefonanrufe. Sie hat sich für das interessiert, was in ihrem Umfeld geschah. Ihre Ankündigung des Sterbetermins kam unerwartet. „Das gibt es doch nicht, jedenfalls nicht bei uns in der Familie“, dachte der Sohn. Einen Monat später war seine Mutter tot.
Aufgewachsen ist Christian L. mit zwei Geschwistern in Ostercappeln in Niedersachsen – in dem Haus, in dem sich die 84-Jährige kürzlich tödliches Gift injizieren ließ. Luise L. hatte elf Geschwister. Ihr Familienkreis war entsprechend groß, das Leben im Ort tief verwurzelt. „Der Sterbewunsch passte eigentlich nicht zu ihr“, sagt Christian L. Für ihn war Beihilfe zur Selbsttötung bisher etwas, das sich nur reiche Menschen leisten, die dafür in die Schweiz fahren. Aber seit 2020 nehmen die Zahlen auch in Deutschland zu. Denn das Bundesverfassungsgericht hat damals das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe aufgehoben. „Es hat unter anderem festgestellt, dass jeder Kranke oder Gesunde das Recht auf eine Suizidassistenz hat“, erklärt der Palliativmediziner Winfried Hardinghaus.
Hardinghaus ist Vorsitzender des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes. Der Verband warnte nach dem Karlsruher Urteil vor einem Dammbruch zur aktiven Sterbehilfe. Aber der Bundestag konnte sich 2023 nicht auf eine gesetzliche Regelung der Beihilfe zur Selbsttötung einigen. Daher gibt es weiterhin eine rechtliche Grauzone mit vielen Lücken. Kritiker monieren zum Beispiel, dass Suizidassistenz auch bei Kindern nicht strafbar ist. Vieles sei nicht klar geregelt: Wie wird die Freiwilligkeit festgestellt? Wie viel und wozu wird vorab beraten? Welche Fristen sollen gelten?
Ein ganzheitliches und gut ausgebautes Angebot der Hospizarbeit und Palliativversorgung sieht Hardinghaus als Gegenpol zur Sterbehilfe. Nötig sei zudem eine gesicherte Finanzierung von niedrigschwelligen Angeboten zur Suizidprävention, auch an Schulen. In Deutschland gab es 2023 mehr als 10 000 Suizide. Darunter rund 900, bei denen Menschen von Sterbehelfern unterstützt wurden.
Vom Sterbewunsch seiner Mutter hat Christian L. fünf Wochen vor dem Termin für den assistierten Suizid erfahren. Zu diesem Zeitpunkt stand das Datum schon fest. Luise L. hatte es mit der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben vereinbart. Sie hatte dem Sterbehilfe-Verein knapp drei Wochen zuvor in einem Brief ihren Wunsch nach einer Freitodbegleitung mitgeteilt und in weniger als einer Woche die Zusage erhalten. Der Grund für ihren Wunsch war ihr Sehverlust. Außerdem hatte die 84-Jährige Angst, dass sie in einigen Jahren unter Demenz leiden und dann nicht mehr dazu in der Lage sein könnte.
Christian L. wohnt mit seiner Frau und zwei Kindern in Kirchseeon im Kreis Ebersberg. Besuche in Ostercappeln waren nicht spontan möglich, aber er telefonierte häufig mit seiner Mutter. Eigentlich seien diese Gespräche immer vertrauensvoll gewesen, sagt er. Nur über ihren Sterbewunsch ließ sie nicht mit sich reden. Er schrieb einen emotionalen Brief an den Arzt seiner Mutter, den sie über ihren Sterbeplan noch nicht informiert hatte. Außerdem wandte er sich an die DGHS und erreichte eine Überprüfung des Sterbewunsches. Der von ihm eingeschaltete sozialpsychiatrische Dienst organisierte einen Hausbesuch durch einen Psychotherapeuten. Das Ergebnis blieb aber dasselbe: Es konnte keine psychische Krankheit festgestellt werden; der Sterbewunsch sei freiwillig.
Ein eineinhalbseitiges Schreiben des Experten hält den Eindruck fest, den er aus dem Gespräch gewonnen hat. Dieses sei weder ein Gutachten noch eine psychiatrische Untersuchung gewesen, so Christian L. Das Schreiben habe der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben jedoch ausgereicht – was er nicht nachvollziehen kann. Der assistierte Suizid unterliege „kaum überprüfbaren, unterschiedlichen (vereins-)internen Regularien und Sicherheitsstandards und personenabhängigen Einschätzungen“, kritisiert auch Professor Hardinghaus. Jeder Sterbehilfe-Verein ist frei, eigene Regeln zu erstellen. Bei der DGHS muss zwischen Terminvergabe und Sterbedatum mindestens ein Monat liegen, der Betroffene muss seinen Sterbewunsch schriftlich oder in einem Gespräch mit einem Arzt oder Psychologen erklären.
Angehörige möchten das Sterben zu Hause oft begleiten. Christian L. wollte nicht dabei sein, hat sich aber die letzten Stunden seiner Mutter von anderen Familienmitgliedern schildern lassen: Ein Arzt und eine Rechtsanwältin kamen zu Luise L. und ihrem Ehemann nach Hause. Im Schlafzimmer wurde die Infusion aufgestellt, der Arzt legte die Kanüle in den Arm der 84-Jährigen. Sie musste nur noch an einem Rädchen drehen, damit das Gift in die Adern floss. Das Mittel ließ Luise L. sofort einschlafen, kurz darauf starb sie an Atem- und Herzstillstand. Christian L. ist erschüttert, wie schnell alles ging von der Äußerung des Sterbewunsches bis zum Tod. Es fällt ihm schwer, das Geschehene zu verarbeiten. Er geht oft zu einem Wegkreuz in Kirchseeon, um Antworten zu finden: Warum hat sie sich nicht anders helfen lassen? Warum gab es keinen Abschiedsbrief, keine letzten Worte, mit denen sie ihm noch etwas erklärte? Was hat die Familie versäumt? „Diese Fragen werden mich für den Rest meines Lebens beschäftigen.“