KOLUMNE

Besuch kommt

von Redaktion

„Heute mache ich mir eine Freude und besuche mich selbst. Hoffentlich bin ich daheim.“ Karl Valentin hat das gesagt, der außergewöhnliche Volkskünstler und Sprachakrobat. Adventszeit ist eine ausgezeichnete Gelegenheit, Besuche zu machen. Gemeinhin verabredet man sich dazu, weil ohne Termin, so ganz spontan, eigentlich kaum etwas geht. Da stünde man klingelnderweise, aber vergeblich vor der Tür und müsste frustriert wieder abziehen.

Ich mache mir eine Freude und besuche mich. Man sollte besser auch hier eine feste Verabredung treffen, um sich nicht zu verpassen. Mittendrin zwischen Jahresendspurt im Job, Einkäufen, Christkindlmarkt, Pakete packen und wegschleppen begegnet man sich nicht. Zu viel Auftrieb, zu viele wild dahinjagende Gedanken, zu wenig Zeit. Also in den Kalender schauen und sich mitteilen: Heute in der Mittagspause oder nach der Sportschau, vielleicht auch erst spätabends komme ich zu mir. Macht das Freude?

Ein üblicher Besuch kann so oder anders verlaufen. Man ist beieinander, freut sich über alles, was verbindet, und zieht froh gestimmt wieder in die Welt hinaus. Oder man merkt, dass man zwar nicht immer und in allem übereinstimmt, tauscht sich jedoch voller Interesse aneinander aus. Im schlimmsten Fall geht man davon und ist enttäuscht von all der Langeweile, dem nichtssagenden Geschwätz. Und was ist, wenn man sich aufmacht, sich selbst zu begegnen?

Es kann ganz wunderbar sein – zu spüren, was alles in einem lebendig ist, wie viele Ideen man auf Lager hat, wie viel Hoffnung in einem steckt und wie viel Lebensfreude, die herausmöchte. Hurra, ich bin ganz bei mir und das ist ein feines Gefühl! Natürlich ist es auch möglich, dass man anlässlich eines Besuches bei sich selbst einiges an Unerledigtem vorfindet. Ein Blick in die Schränke und Schubladen zu Hause kann einem ein Bild davon vermitteln, wie‘s da drinnen aussieht…

Der Philosoph Walter Benjamin meinte: „Glücklich sein heißt, ohne Schrecken seiner selbst innewerden können.“ Sein Aphorismus impliziert die Ahnung, dass es das Gegenteil gibt – man begegnet seinem tiefsten Inneren und zuckt zusammen wegen dem, was man findet: neue Ängste, alte Wut, nichts vergeben, schon gar nicht vergessen. Ungelöste Konflikte, nicht ausgesprochene Kränkungen. Diese Schrecken machen weniger Freude, aber sie sind heilsam. Nur was verbuddelt bleibt, ist gefährlich.

Ein Besuch bei sich selbst wird zum Segen – wenn man sorgsam zu Tage fördert, richtig anschaut und bearbeitet, was in einem Menschen nach Aufmerksamkeit verlangt. Und das ist nicht wenig. Es macht also schon Freude, sich selbst zu besuchen und auch wirklich anzutreffen. Und übrigens: Wenn Sie an diesem Wochenende jemand anderen besuchen – nehmen Sie sich mit.

Artikel 2 von 11