ZEITGESCHICHTE

Bombenalarm auch an Heiligabend

von Redaktion

Tagebuch-Erinnerungen an die letzte Kriegsweihnacht vor 80 Jahren

Genervt von den Angriffen: Kardinal Faulhaber. © kna

Dieter Schütze lebt heute in Hallbergmoos. In der Hand hält er das historische Bild. © Lehmann

Kriegsweihnacht 1944: Dieter Schütze mit seinen Schwestern Karin, Jutta und Bärbel. © Privat

Das nationalsozialistische Regime wankte, aber noch fiel es nicht. Vor 80 Jahren erlebte ein zerbombtes Deutschland die letzte Kriegsweihnacht. Ein paar 100-Prozentige hatten sogar die Hoffnung, dass sich alles noch mal „zum Guten“ wenden würde – schließlich gab es ja jetzt die „Ardennen-Offensive“ im Westen. Andere fürchteten, dass dieses letzte Aufbäumen der deutschen Wehrmacht die Befreiung vom nationalsozialistischen Joch nur sinnlos hinauszögern würde. Impressionen aus einer fernen Zeit.

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Mitte Dezember keimt unter den Hitlergläubigen noch einmal Hoffnung auf. Die Ardennen-Offensive beginnt am 16. Dezember 1944 mit Geländegewinnen der deutschen Wehrmacht, die etwa 80 000 Mann zusammengezogen hat und nun die Frontlinie, die durch Belgien verläuft, durchbricht und etwa 30 Kilometer weit vorstößt. Die Nachricht elektrisiert viele. Maria B., eine Pfarrerstochter, 42 Jahre alt, Rot-Kreuz-Schwester und mit einem Münchner Pathologen verheiratet, berichtet in ihrem Tagebuch, „eine wildfremde Frau“ habe sie am Bahnhof umarmt. „Strahlend und weinend zugleich“ rief die Frau: „Wissen Sie es schon, Schwester? Wir haben eine große Offensive im Westen gestartet – ein großer Erfolg. Das bedeutet die Wendung – endlich. Ich hab‘s immer gewusst!“

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Doch die Freude währt nur kurz. Nach einer Woche bricht die Offensive zusammen – die anfangs überraschte US-Armee sammelt ihre Kräfte und drängt die Deutschen zurück. Abgesehen von unverbesserlichen Optimisten, die noch an eine „Wunderwaffe“ glaubten, so der Historiker Ian Kershaw, habe nun jeder sehen könnten, „dass das Regime zum totalen Untergang verdammt war“. Deutschland ist zu diesem Zeitpunkt in etwa wieder auf die Größe von 1937 geschrumpft. Im Osten stehen die sowjetischen Truppen kurz vor der Oder-Neiße-Linie. Im Westen stehen die Alliierten am Rhein. Schon im Oktober 1944 ist mit Aachen die erste deutsche Großstadt befreit worden. Doch es sollte noch drei Monate dauern, bis März, ehe amerikanische Truppen bayerisches Gebiet erreichten und noch vier Monate, ehe sie am 29. April 1945 München besetzten. Ende 1944 hat München schon fast 70 Luftangriffe erlebt, über 5000 Münchner sind dadurch getötet worden, weite Teile der Altstadt sind zerstört. Bereits im April 1944 ist die Residenz ausgebrannt, am 17. Dezember 1944 trifft es wieder einmal auch die Frauenkirche. Fast täglich gibt es Luftalarm, selbst an den Weihnachtsfeiertagen – an Heiligabend sogar zwei Mal. Es zermürbt die Menschen. „Am Abend alles sehr müde, beim Rosenkranz im Schutzkeller. Kampf gegen den Schlaf“, notiert der Münchner Kardinal Michael von Faulhaber missmutig am 23. Dezember 1944 in sein Tagebuch..

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Dieter Schütze (90), der heute in Hallbergmoos (Kreis Freising) lebt, ist damals ein zehnjähriger Schüler. Er weiß nichts vom nationalsozialistischen Vernichtungs-Wahnsinn, den Millionen Toten. Der Zehnjährige aus dem fernen Angermünde in der Uckermark/Brandenburg ist stolz, dass er für die Reichsschule der NSDAP in Feldafing am Starnberger See angenommen wurde. Es ist eine Ausleseschule der Nazis. „Alle ,Jungmannen‘ waren stolz, auf dieser Schule zu sein“, schreibt er in seinen Erinnerungen. Schütze erhält zwei Schuluniformen, eine zum Ausgehen und eine für den täglichen Gebrauch. „Reichsschule der NSDAP“, steht auf dem Ärmelstreifen. Eigentlich lief der Schulunterricht relativ sachlich ohne „weltanschauliche Indoktrination“ ab, erinnert sich Schütze. „Das war wohl für die späteren Jahrgänge vorgesehen.“ Allerdings bekommen die Jungen eine Ahnung, was „draußen“, an der Front, los war: Immer, wenn ein ehemaliger Schüler oder Erzieher gefallen ist, gibt es eine Feierstunde in der Reichsschule. Und der Chor singt: „Kein schönrer Tod ist in der Welt als der vom Feind erschlagen.“ Zum Weihnachtsurlaub darf Schütze heim in die noch unversehrte Kleinstadt Angermünde. Heiligabend gibt es Selbstgebasteltes, am Weihnachtsbaum hängen Stanniol-Streifen, „die die feindlichen Bomber abgeworfen hatten, um die deutsche Radar-Abwehr zu stören.“ Die Kinder, sagt Schütze, mussten sie aufsammeln. Im Januar 1945 wird der Junge mit dem Zug durchs kriegszerstörte Deutschland geschickt – zurück nach Feldafing. Tatsächlich geht der Unterricht, als wenn nichts wäre, eine Weile weiter – im Februar steht sogar noch ein Skilager am Spitzingsee auf dem Programm. Endsieg, Wunderwaffe – die Floskeln hört der Junge noch oft, ehe die Schüler ausquartiert werden und im Kloster St. Ottilien den Einmarsch der Amerikaner erleben.

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„Zurück in den Hexenkessel München“, schreibt Maria B. in ihr Tagebuch, das heute im Deutschen Tagebucharchiv Emmendingen aufbewahrt wird. Bei ihr kommt an Weihnachten 1944 keine festliche Stimmung auf. „Die schrecklichen Nachrichten über die Flüchtlingsheere, die vor den Russen flohen, und wo Eltern ihre Kinder und Verwandte aus den Augen verloren, geben uns ein warnenden Zeichen.“ Doch Maria B., über ihren Mann mit vielen hohen SS- und NSDAP-Funktionären gut bekannt, schwankt. Ob sie denn noch an den Sieg glauben, wird das Ehepaar von Freunden gefragt. „Wir wollen die Hoffnung nicht aufgeben“, lautet die Antwort. Aber nur kurze Zeit später kippt auch bei ihr die Stimmung. „Mit Erschütterung verfolgten wir auf den Landkarten, wie die Front im Osten immer weiter gegen Deutschland reichte“, schreibt sie später in ihr Tagebuch. „Es gab keine Hoffnung mehr.“ Den Zusammenbruch des nationalsozialistischen Reiches empfindet sie als „Niederlage“.

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Ganz anders sieht es der jüdische Romanist Victor Klemperer, der noch nahe Dresden ausharrt. Im Februar 1945 wird er das Chaos nach dem Bombenhagel auf die Stadt an der Elbe, der etwa 25 000 Tote fordert, dazu nutzen, mit seiner Frau Richtung München zu fliehen und unterzutauchen – die Befreiung erleben die Klemperers schließlich Ende April 1945 in einem schwäbischen Dorf. „Die Westoffensive der Deutschen schreitet fort und bedrückt mich sehr“, schreibt er noch am 23. Dezember in sein Tagebuch. Doch es gebe auch Stimmen, die sie als „Verzweiflungsakt“ deuteten. Zu Weihnachten schreibt der seit langem zum Protestantismus konvertierte Wissenschaftler: „Wir können nichts schenken, weder uns noch anderen. Einen Baum gibt es in diesem Jahr nur durch die Partei für Kinderreiche. Die Sonderzuteilungen bestehen – natürlich für Arier nur – in 250 Gramm Fleisch und zwei Eiern.“ „Dieser Jämmerlichkeit“, schreibt Klemperer, „soll nun durch den Sieg im Westen aufgeholfen werden“. Wie man weiß: Es kam anders.
DIRK WALTER

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