ZEITGESCHICHTE

Bewährung für den Hochverräter

von Redaktion

Vor 100 Jahren endete Hitlers ohnehin kurze Festungshaft in Landsberg

Adolf Hitler am Tag seiner Freilassung vor dem Bayertor in Landsberg. Im Mercedes fuhr man ihn nach München. © Keystone

München – Es war die triumphale Rückkehr eines Hochverräters. Am 20. Dezember 1924, einem Samstag, um 12.15 Uhr, verließ der damals 35-jährige Adolf Hitler in Begleitung seines einstigen Mitverschwörers Hermann Kriebel die Justizvollzugsanstalt Landsberg. Chauffiert in einem Mercedes Benz erreichte er eine Stunde später die Münchner Stadtgrenze, wo ihn seine Anhänger begrüßten und zu seiner Wohnung in der Thierschstraße begleiteten. „Das Aussehen Hitlers ist ein sehr gutes“, berichtete die „Münchener Zeitung“ – was schon darauf hindeutete, dass ihm die Haft in Landsberg nicht allzu sehr zugesetzt hatte. Weiter hieß es, noch am selben Abend „folgte Hitler einer Einladung Ludendorffs nach der Ludwigshöhe, wo auch einige Führer der Völkischen erschienen waren“.

Eine Kette von juristischen Fehlentscheidungen

Nicht einmal ein Jahr nach seiner Inhaftnahme war für Hitler der Putschversuch vom 8./9. November 1923 gesühnt – was nur dank einer Kette von juristischen Fehlentscheidungen möglich war, die der Anwalt Otto Gritschneder in einem Buch 1990 als erster recherchiert hat. Schon das Urteil vom 1. April 1924 war glatte Rechtsbeugung. Hitler war zu nur fünf Jahren Festungshaft verurteilt worden – wobei zahlreiche Straftaten während seines Putschversuches, etwa die Geiselnahme von Münchner Juden, gar nicht zur Sprache kamen. Außerdem wurde ihm Bewährung nach nur sechs Monaten in Aussicht gestellt – ein weiterer Fehler, da Hitler 1922 schon einmal „Bewährung“ erhalten hatte. Gegen Einwände der Staatsanwaltschaft, die etwa auf Briefschmuggel hinwies und Hitler keineswegs „gute Führung“ attestierte, wurde die Bewährung zuerst vom Landgericht, dann nach Einwänden vom Bayerischen Obersten Landesgericht bestätigt. Wie wäre wohl der Lauf der Weltgeschichte gewesen, so formulierte es Gritschneder, „wenn Hitler die restlichen drei Jahre, 333 Tage, 21 Stunden und 50 Minuten noch in Landsberg inhaftiert geblieben wäre“?

Doch unter dem Eindruck der allgemein beruhigten Lage schien von Hitler keine Gefahr mehr auszugehen. 1924 hatte sich die Weimarer Republik nach dem chaotischen Krisenjahr 1923 mit Ruhrbesetzung, Hyperinflation und Umsturzversuchen halbwegs stabilisiert. Es war freilich eine trügerische Ruhe, es brodelte unter der Oberfläche. Bei der bayerischen Landtagswahl im April/Mai 1924 war der „Völkische Block“, eine Ersatzpartei für die verbotene NSDAP, nur knapp hinter der führenden katholischen Bayerischen Volkspartei und der SPD mit 17,12 Prozent auf dem dritten Platz gelandet. Die Öffentlichkeit berauschte sich freilich mehr an dem Sensationsprozess gegen den Hannoveraner „Menschenfresser“ Fritz Haarmann, der im Dezember vor Gericht stand. Just am 19. Dezember, einen Tag vor Hitlers Freilassung, erging das Urteil: Tod durch das Fallbeil.

Hitler hatte die Tage in Landsberg in einer Art Ehrenhaft verbracht. „Festungshaft“ klingt nach Wasser und Brot. Doch tatsächlich überhäuften ihn seine Anhänger mit kulinarischen Köstlichkeiten, auch Wein, Bier (Alkohol war eigentlich verboten) und Pralinen. Die Anstaltsleitung unter dem Hitler-Sympathisanten Otto Leybold ließ es zu.

In Landsberg entstand die berühmteste Hetzschrift der Welt

Auch die Kontrollen der Besucher waren lax, mehr als einmal schmuggelten sie Briefe mit politischem Inhalt ein oder aus. Ohnehin war die Besucherzahl immens: Der Historiker Peter Fleischmann, der das durch Zufall wieder aufgefundene Gefangenenbuch Hitlers ausgewertet hat, zählte 345 Besucher an 524 Terminen (viele kamen mehrmals, Ludendorff sogar neun Mal) in den nicht einmal neun Monaten Festungshaft. Sodann: Mit Schreibmaschine, Papier und Stiften versorgt, machte sich Hitler an die Arbeit und schrieb weite Teile von „Mein Kampf“, sein Buch, das zunächst den Titel „ „4 ½ Jahre Kampf gegen Lüge, Dummheit und Feigheit“ tragen sollte, und das er nach den Forschungen des Instituts für Zeitgeschichte „tatsächlich allein“ verfasste und entgegen mancher Legenden selbst in die Schreibmaschine tippte. So entstand die wohl berühmteste Hetzschrift der Welt unter wohlwollender Obhut des bayerischen Staates.

Von der Forschung bisher nicht berücksichtigt wurde indes der größere Zusammenhang, in dem Hitlers Freilassung stand. Die „Münchener Zeitung“ berichtete in ihrer Ausgabe 20./21. Dezember 1924 unter der Überschrift „Ein Weihnachts-Gnadenakt der bayer. Regierung“, dass am selben Tag auch die sieben letzten, meist zu langjährigen Haftstrafen verurteilten Räterepublikaner frei kamen, darunter Felix Fechenbach, Sekretär von Bayerns erstem Ministerpräsidenten Kurt Eisner, der Würzburger Revoluzzer Fritz Sauber und der Münchner Anarchist Erich Mühsam.

Strapaziöse Haftbedingungen für Räterepublikaner

Sie alle waren seit ihrer Verurteilung im Jahr 1919 in der Festungshaftanstalt Niederschönenfeld (Donau-Ries) gefangen – freilich nicht so luxuriös wie Hitler, sondern schikanös mit Besuchsverboten und Dunkelhaft. Über die strapaziösen Haftbedingungen informiert das 1994 bei dtv herausgegebene Tagebuch Mühsams. Die Freilassung basierte auf einem Gnadenerlass des bayerischen Kabinetts, war also nicht wie bei Hitler auf juristischem Wege erzwungen worden.

Dennoch: Eine offene Frage ist, ob es hier einen Zusammenhang gibt – denn wenn Leute freikamen, die öffentlich als kommunistische „Aufrührer und Verräter“ galten (so sah es auch die erzkonservative Münchener Zeitung), so konnte man doch den vermeintlich „Vaterländischen“ und „Völkischen“, die in Landsberg einsaßen, die Freilassung nicht verweigern.

Erschöpft notierte Mühsam in sein Tagebuch: „Sonnabend, 20. Dez. 24: Vormittag, zehn Uhr dreißig. Frei!“ Er starb zehn Jahre später im KZ Oranienburg bei Berlin – ermordet von Hitlers SS-Schergen.
DIRK WALTER

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