KOLUMNE

Auf der Zielgeraden

von Redaktion

„Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr“, notierte der Dichter Rilke melancholisch in seinem Gedicht „Herbsttag“. Das hat etwas Abschließendes, Endgültiges. Aus, vorbei. Rien ne va plus, nichts geht mehr. Es kann einem bei diesem Gedanken ein klein wenig eng ums Herz werden – auch wenn ein neuer Herbst im nächsten Jahr erhofft werden kann und möglicherweise noch manch anderer mehr.

Sobald ich mein Mailfach öffne, verursacht mir derzeit manche Nachricht ähnliche Beklemmungen wie die Zeile des Dichters. Da aber, wo er feinfühlig zum besinnlichen Nachdenken anregt, rücken die Autoren der elektronischen Nachrichten mit erheblichem Nachdruck vor: „Nur noch bis zum 18.12.“, „Letzte Gelegenheit vor Weihnachten“, „Last Minute Geschenke“, „Countdown to Christmas“, „Nur noch heute“ … Nur. Noch.

Nun habe ich alles längst beieinander und dadurch keine Not mit den Geschenken. Ich brauche mich folglich nicht ins Bockshorn jagen zu lassen. Dennoch bleibt eine kleine Unsicherheit, erzeugt durch die Flut an unverhohlenen, nahezu endzeitlichen Formulierungen: Könnte es trotz meiner Planungswut nicht doch sein, dass ich etwas oder jemanden vergessen habe? Die Saat beginnt aufzugehen…Bis, ja bis etwa zwei oder drei Tage vorüber sind.

Denn war ich eben noch dabei, mir ernsthaft Sorgen zu machen, schicken dieselben Firmen gleiche oder ähnliche Mails. Den ersten Mahnungen hätte ich gar nicht glauben müssen. Es geht weiter. Das wiederum erinnert mich weniger an Rilke als an die Rolling Stones, die fast so alt sind wie inzwischen der Dichterfürst. Fast. Sie kommen jedenfalls nach jeder Abschiedstournee wieder um die Ecke.

Auch bei ihnen ist bislang nie wirklich Schluss. Ich persönlich finde das erfreulich, weil ich ein Fan der ersten Stunde bin, was mich auch nicht direkt jünger macht. Dafür wieder etwas sorgloser. Denn Rilke mag zu Recht an die Vergänglichkeit erinnern. Die alten Rock‘n‘Roller samt sämtlichen Firmen machen deutlich, dass alles immer wieder von vorne losgeht – vor allem, wenn es sich um Geld und Gewinn handelt.

Wer jetzt kein Geschenk hat, kann noch eins besorgen. Auch sonst bleibt genug zu tun. Rilke lesen zum Beispiel, den ich mindestens so mag wie die Stones. Weihnachten ist für Rilke das schönste und geheimnisvollste Fest des Jahres. Voll erwartungsvoller Vorfreude sah er „der einen Nacht der Herrlichkeit“ entgegen.

Ich werde also wachen, lesen, lange Briefe schreiben und in den Straßen hin und her unruhig wandern, wenn die Flocken draußen wild umhertreiben…

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