Wiedersehen nach 15 Monaten: Die Kinderkrankenpflegerinnen Lara Hilger (links) und Franka Engler, Chefarzt Marcus Krüger und Oberarzt Christian Brickmann (r.) mit Sila.
Vor zehn Monaten: Sila auf dem Arm ihres Vaters.
Ein Bussi von Papa Selim heute für seine Tochter.
Die kleine Sila mit ihrer Mama Jessica. Bei ihrer Geburt wog das Mädchen nur 310 Gramm.
München/Odelzhausen – Neugierig blickt Sila den Mann an, der sie gerade anlächelt. „Mannomann bist du ein großes Kind geworden“, sagt er und greift nach ihrer Baby-Hand. Diese Hand hat er schon gehalten, da war sie noch so groß wie ein Fingernagel. Jetzt schließt Sila fest die Finger um seinen Daumen und staunt ihn aus ihren braunen Augen an. Chefarzt Marcus Krüger hat schon viele Frühchen auf die Welt geholt. Nicht alle haben es geschafft. Silas Start ins Leben war auch für die erfahrenen Neonatologen und Geburtshelfer in der München Klinik in Harlaching ein Wunder.
Sila kam zu früh auf die Welt. Mehr als drei Monate zu früh. Sie wog nur 310 Gramm – so wenig wie noch kein Frühchen vor ihr in der München Klinik. Ihre Eltern Jessica und Selim erfahren in der 20. Schwangerschaftswoche, dass ihr Baby nicht normal wächst. Wenn es so früh in der Schwangerschaft passiert, überleben die Babys nur selten. Die Ärzte kämpfen um jeden Tag. In der 26. Woche ist Sila lebensfähig, zwei Tage warten die spezialisierten Geburtshelfer noch. Am 13. September wird sie per Kaiserschnitt auf die Welt geholt. Im OP sind 30 Ärzte und Intensivpflegekräfte. Eine von ihnen ist Franka Engler. Die Kinderkrankenpflegerin macht die Erstversorgung. Sie ist Profi. Aber mit so einem kleinen Wesen hat auch sie es noch nie zu tun gehabt. Sila ist kaum größer als eine Avocado. Jede Berührung kann einen Bluterguss auslösen. Silas Augen sind noch geschlossen, die Ohren nicht richtig ausgebildet, die Stimme zu schwach, um richtig zu schreien. Auch Brustwarzen hat sie noch nicht. Aber die Organe sind fertig ausgebildet. Auf 380 Gramm hatten die Ärzte vor der Geburt Silas Gewicht geschätzt. Als Franka Engler das winzige Baby sieht, weiß sie: Es sind viel weniger.
Jetzt, 15 Monate später, sitzt Sila mit ihren lebensfrohen 5750 Gramm auf ihrem Schoß und gluckst glücklich. Aus Sila ist ein völlig gesundes Mädchen geworden. Ein wenig ist sie Gleichaltrigen mit ihrer Entwicklung hinterher. Sie wird noch ein paar Jahre brauchen um das aufzuholen. Aber die Ärzte sind sehr zufrieden mit ihrer Entwicklungskurve. Solche Momente wie dieser hier sind selten für Franka Engler und das Team. Silas Eltern Jessica und Selim wissen, wie viel sie den Spezialisten in der Klinik verdanken. Sie haben immer den Kontakt gehalten, Fotos geschickt. Heute sind sie gekommen, um ein kleines Weihnachtsgeschenk auf der Station abzugeben. Sila wird viel bestaunt. Niemand auf der Station hat sie vergessen. Sie war nur eine Handvoll Leben – aber hatte einen Kampfgeist, der stärker war als alle Wahrscheinlichkeiten.
Ärzte reden nicht gerne über Prozentzahlen. Jedes Frühchen ist anders, es spielen viele Faktoren eine Rolle, betont der Chefarzt. „Aber ich würde sagen, die Wahrscheinlichkeit, dass ein so kleines Kind wie Sila überlebt, liegt bei zwei bis drei Prozent. Und dass sie heute so gesund ist bei unter einem Prozent.“ Krüger und sein Team haben winzige Medikamentenmengen berechnet. Ein halber Milliliter Kalzium, ein viertel Milliliter Magnesium mehr. Dann, nach acht Tagen, muss Sila operiert werden. Ihr Darm hat ein kleines Loch. Doch auch das übersteht sie. Ihre Mutter sagt: „Danach wusste ich, sie schafft das. Sila will leben.“
Silas Name hat eine Bedeutung. Ihre Eltern haben mazedonische Wurzeln. Sila heißt in ihrer Heimat „die Mächtige“. Ihr winziges Herz schlägt kräftig. „Silas Geschichte macht so viel Mut“, sagt Franka Engler, während sie zusieht, wie die Kleine ein Spielzeug erkundet. Mut machen möchte auch Silas Mama Jessica. Sie erinnert sich gut an jedes Arztgespräch. Wie die Spezialisten sie behutsam darauf vorbereiteten, dass ihre Tochter viel zu früh auf die Welt kommen wird. Und dass sie es vielleicht nicht schaffen wird. Seit Jessica Sila kennt, glaubt sie an Wunder.
Am 2. Januar, mehr als drei Monate nach der Geburt, durfte Sila das erste Mal nach Hause. Ihre Familie lebt in Odelzhausen im Kreis Dachau. „Dort wird Sila schon das Wunder-Baby genannt“, sagt Jessica. Ihre Geschichte hat sich schnell herumgesprochen. Doch es dauert noch Monate, bis Silas Leben ruhiger wird. Im Februar muss sie noch mal operiert werden, es hatte sich eine Darmschlinge gebildet. Auch das steht sie durch. Ihre Eltern haben einen Monitor zu Hause. Wenn Sila in ihrem Bett liegt und schläft, überwacht er Atmung und Herzschlag. „Das war für mich am Anfang eine große Beruhigung“, sagt Jessica. „Aber Sila hat so viel Ruhe in sich, das strahlt ab.“
Am meisten genießt die Kleine ihr Leben, wenn ihr großer Bruder Baran um sie ist. Vorsichtig küsst der Siebenjährige seine kleine Schwester auf die Stirn und Sila lacht ihn an. Wenn Jessica und Selim das beobachten, fühlen sie nur Glück. Noch vor einem Jahr waren sie nicht sicher, wie es mit Sila weitergeht. Ob sie sich normal entwickeln würde. Nun werden sie das erste Mal zu viert zu Hause Weihnachten feiern. Ihr kleines Wunder wird mit großen Augen auf den Christbaum zu krabbeln und sie alle mit ihrer Lebensfreude anstecken.
Manchmal passiert es Jessica inzwischen, dass sie nachts in Silas Zimmer geht und nicht mehr auf den Monitor neben dem Bett schaut. „Wenn Sila wach im Bett liegt, lächelt sie mich an“, erzählt sie. Neulich hat ihre Tochter das erste Mal Mama gesagt. Und noch immer ist fast jeder Tag ein neues Wunder.