Über früher reden sie gerne: Jakl, Maria, Hans und Barbara blättern in alten Fotoalben aus ihrer Kindheit.
Lenggries – Hans Gerg (80) blickt hochkonzentriert aus dem Fenster. Er hat gerade etwas Zeit und die nutzt er, um seine Familie auszurechnen. Zettel und Stift braucht er dafür nicht und einen Taschenrechner schon gleich gar nicht. Kopfrechnen war früher in der Schule schließlich eines seiner Lieblingsfächer. Zwölf Geschwister hat er, alle zusammen haben sie 63 Kinder, macht 4,7 im Durchschnitt. Die Enkel überschlägt er nur, über 200 müssten es sein. Urenkel sind natürlich auch schon da – aber darum geht es Hans Gerg an diesem Tag gar nicht. Er will wissen, wie alt er und seine Geschwister zusammen sind. Eine Zahl nach der anderen addiert er, angefangen beim ältesten Bruder, dem 84-jährigen Jakl. Bis zu seiner jüngsten Schwester Barbara. Hans Gerg kommt auf 999. Und dann hat er eine Idee. Barbara wird bald 66, es ist der nächste Geburtstag, der ansteht – und eine einmalige Gelegenheit, um zu feiern, dass die Gerg-Geschwister zusammen 1000 Jahre alt sind.
Geburtstage hatten früher keinen großen Stellenwert bei den Gergs. Maria, heute 82, ist es in ihrer Jugend sogar das ein oder andere Mal passiert, dass sie ihren eigenen Geburtstag vergessen hat. „Das ist bei uns nicht gefeiert worden“, sagt sie. Aber zum Namenstag hat die Mutter jedem Kind jedes Jahr einen Kuchen gebacken. Das war einer der besten Tage im Jahr. Das Geburtstagfeiern haben die Gergs sich für ihre Zeit als Rentner aufgehoben. Bei 13 Geschwistern steht eigentlich ständig ein Fest an. Und Barbaras 66. soll diesmal ein Fest für alle werden.
Ein paar Wochen später sitzen die 13 Geschwister zusammen in der Kirche, alle in ihrer besten Tracht. Der Pfarrer erzählt in der Predigt, dass heute in einer Familie ein ganz besonderer Geburtstag gefeiert wird – ein tausendster. Nach dem Gottesdienst gehen die Gerg-Geschwister gemeinsam ans Grab ihrer Eltern – zu den beiden Menschen, die ihnen Zusammenhalt beigebracht haben. Und dann geht‘s gemeinsam ins Gasthaus. Nur die Geschwister und ihre Ehepartner. „Sonst ufert das bei uns ja immer gleich aus“, sagt Hans Gerg und lacht sich ein paar Lachfalten um die Augen. Sie wollen ja nicht gleich wieder den ganzen Saal mieten, sondern einfach gemeinsam ein bisschen in die Vergangenheit reisen. Denn die haben sie alle 13 als wunderschön in Erinnerung.
Es wird viel gelacht an diesem Tag im Wirtshaus. Zum Beispiel als Barbara, die Jüngste, erzählt, wie ihre großen Brüder ihr auf dem Hang neben dem Hof das Skifahren beibrachten. Die Ski haben sie ihr selbstgebaut – und der Irgl hat sogar einen Lift konstruiert. Erst mit Seil und Motormäher, später mit dem Traktor, damit konnte er das Seil besser spannen. Große Brüder sind was wert im Leben – und Barbara hatte gleich sieben davon.
„Streit hat‘s bei uns nie richtig gegeben“, sagt sie ein bisschen nachdenklich. Warum auch? „Es war ja jeder zufrieden. Und wir haben‘s ja auch nicht anders gekannt.“ Für die Gerg-Geschwister war es völlig normal, dass im Esszimmer zwei große Tische standen: einer für die Kinder, einer für die Großen. Zwei Knechte, zwei Mägde und ein Kindermädchen unterstützten die Mutter bis in die 50er-Jahre – sie war ja fast jedes Jahr schwanger. Aber das Kochen hat sie sich nie nehmen lassen. „Sie war eine einmalige Köchin“, erzählt Jakl Gerg. „Bei uns stand immer was Gutes auf dem Tisch.“ Vieles konnten sie auf dem Bauernhof ja selbst produzieren. Kartoffeln, Milch, Schmalz, Butter hat‘s bei den Gergs auch in den harten Nachkriegsjahren immer gegeben. „Und Brot hat unsere Mutter immer selbst gebacken“, erzählt Hans Gerg. Nicht selten wurden dafür vier Zentner Mehl auf einmal gekauft. Das Bild, wie ihre Mutter mit einem riesigen Rucksack zum Einkaufen loszog, hat sich bei ihnen allen eingeprägt.
Es war eine Zeit, in der man nicht viel hatte. Aber die Gergs hatten ja sich – das war ihnen mehr wert als Spielsachen oder Kleidung. Auf die Anziehsachen hat damals jeder gut aufgepasst. In der Kindheit der ältesten Gergs musste schließlich noch alles per Hand gewaschen werden. Bei 13 Kindern kommen gewaltige Wäscheberge zusammen, wenn nicht jeder ein bisschen darauf achtet, die Kleidung sauber zu halten. Barbara Ertl, die Jüngste, ist zwar schon mit Waschschleuder aufgewachsen, erinnert sich aber noch gut, wie ihr gutes Kleid fünf Jahre lang immer wieder etwas verlängert wurde – sie trug es auf vielen Hochzeiten ihrer älteren Geschwister.
Denn obwohl in Lenggries fast jedes Jahr ein neuer Gerg geboren wurde, war der Altersunterschied zwischen einigen der Geschwister enorm. Jakl und seine Zwillingsschwester Kathi, beide Jahrgang 1940, haben noch Erinnerungen an die letzten Kriegsjahre. Der 84-Jährige erinnert sich noch, wie er oben am Hügel stand und die ersten Panzer der Amerikaner anrollen sah. Wie sein Vater zum Haus rannte, um die weiße Fahne zu hissen. Wie auf den Feldern noch mit Pferden gearbeitet wurde. Er und Kathi waren schon 18, als ihre jüngste Schwester Barbara zur Welt kam. Und die war erst sieben, als sie Tante wurde.
Trotzdem haben sie Erinnerungen, die sie alle verbinden. Die Fahrten im Unimog zum Beispiel – in ein gewöhnliches Auto hätte die Familie ja schließlich nie reingepasst. Der Vater saß am Steuer, die Mutter und die 13 Kinder auf den Bänken auf der Ladefläche. „Und dann ist während der Fahrt laut gesungen worden“, erzählt Hans Gerg. Seine Geschwister lächeln, viel mehr Worte braucht es nicht – das war schon eine einzigartige Kindheit damals.
Weihnachten haben die Eltern die Kinder in den Heuhaufen geschickt. Zum Beten. Ein Knecht hat aufgepasst. Damit auch keins der Kinder das Christkind überraschen konnte, das drinnen auf einem langen Tisch 13 Geschenke nebeneinander legte. An jedem ein Zettel mit einem Namen. Es waren Kleinigkeiten, manchmal nur ein neues Kleidungsstück. Ab und zu ein Spielzeug. Mehr als an die Geschenke erinnern sich die Gergs daran, wie es nach der Messe Würstl gab. Und wie alle zusammen am Christbaum gemeinsam gesungen haben.
Neulich, vor Weihnachten, hat Jakl Gergs Urenkel ihm seinen Wunschzettel gezeigt. Der Urenkel ist erst fünf, wünschte sich vom Christkind aber schon ein Tablet. Der 84-Jährige ist dabei ganz schön ins Nachdenken gekommen – und dann zu dem Ergebnis, dass er seine Kindheit gegen nichts in der Welt eintauschen würde. „Wir waren auch ohne Geschenke zufrieden“, sagt er. Manchmal blättert er mit seinen Urenkeln in den alten Fotoalben. Dann wird ganz schön gestaunt, wenn sie sehen, was bei den Gergs früher zu Hause so alles los war. Aber eigentlich ist das ja bis heute so.
Zwölf von den 13 Geschwistern leben noch immer in Lenggries im Kreis Bad Tölz-Wolfratshausen. Oder in unmittelbarer Nähe. „Nur einer ist ausgewandert“, sagt Hans Gerg und lacht. Leo, der Zweitjüngste. Ist bis nach Farchant in den Nachbarlandkreis Garmisch-Partenkirchen gezogen. Trotzdem kommen die Gergs alle regelmäßig zusammen. „Gibt ja genug Geburtstage und Hochzeiten zu feiern in unserer Familie“, sagt Barbara schmunzelnd.
Wobei, das würde ja schon wieder völlig aus dem Ruder laufen, wenn jedes Mal die ganze Familie eingeladen wäre. Deshalb haben die Gergs ihre eigenen Regeln gemacht. Heiratet ein Enkel, werden nur die 13 Geschwister mit Partner eingeladen, aber nicht alle Cousins und Cousinen. Bei Geburtstagen mit einer 5 hinten kommen alle 13 Geschwister zu einem Weißwurst-Frühstück zusammen. „Die Runden feiern wir etwas größer“, sagt Hans Gerg. Früher war ja nie richtig Zeit für Geburtstage, das wird jetzt nachgeholt. Da ist er natürlich froh, dass ihm der gemeinsame 1000. Geburtstag jetzt nicht durchgerutscht ist.
„Es ist eine Gnade, dass wir alle noch am Leben sind“, sagt Jakl Gerg. Meistens laufen die Treffen der 13 Gergs ähnlich ab: Erst wird gefragt, was es Neues gibt. „Und dann reden wir meistens schnell von früher“, sagt Barbara. „Das ist ja viel spannender.“
Erst neulich haben sie wieder zusammen darüber gelacht, wie der treue Familienhund Barry die meisten der Gergs bei den ersten Schwimmversuchen im Fluss am Kragen aus dem Wasser ziehen musste. „Er hat immer auf uns alle aufgepasst“, sagt Hans Gerg. „Sobald einer untergegangen ist, war Barry im Wasser.“ Er persönlich verdankt dem Bernhardiner ja eine ganz spezielle Rettungsaktion. Denn als er noch ein Baby war, ist er einmal mit samt dem Kinderwagen in den Fluss gerollt. Barry zog ihn wieder raus. Und der Kinderwagen konnte auch gerettet werden. Er wurde schließlich danach noch acht Mal für seine jüngeren Geschwister gebraucht.
Es gibt so viele gemeinsame Erinnerungen, die ihre Kindheit so wertvoll für sie machen. Wie die Großen immer auf die Kleinen aufgepasst haben. Wie immer eine Schwester oder ein Bruder da war, der getröstet hat. Wie sie an Fronleichnam den größten Tisch beim Wirt reserviert haben – denn einmal im Jahr ist die ganze Familie zusammen essen gegangen. Wie sie dem Straßenwärter einen Streich gespielt haben und mit ihren Fahrrädern Löcher in den Kies gefahren haben. Hat ihn mächtig geärgert. „Aber erwischt hat er uns nie“, sagt Hans Gerg und lacht.
Eine der schönsten gemeinsamen Erinnerungen der 13 Gerg-Geschwister ist noch gar nicht so alt. Ihre Mutter ist über 80 geworden. Und bis zuletzt hatte sie an Weihnachten für jedes ihrer 63 Enkelkinder ein kleines Geschenk verpackt. Immer etwas ganz individuelles. „Sie war der Mittelpunkt unserer Familie“, sagt Barbara. Ihre Eltern haben ihnen das wertvollste Geschenk ihres Lebens gemacht: Zusammenhalt. Je älter sie werden, desto dankbarer sind sie dafür.
Bis Ende Februar sind die Gergs zusammen noch 1000 Jahre alt. Dann wird Sepp Gerg 72. Aber Hans Gerg wäre nicht Hans Gerg, wenn er nicht längst schon wieder das Rechnen angefangen hätte. Alle Geschwister und ihre Partner sind zusammen knapp 1600 Jahre alt. Eigentlich können sie also schon damit beginnen, das nächste große Familienfest zu planen.