INTERVIEW

„Kinder werden traumatisiert“

von Redaktion

Digitaltrainer Daniel Wolff fordert: Smartphones erst ab 14 Jahren

Zocken bis zum Morgengrauen: Viele Kinder können sich vom Smartphone nicht lösen. © IMAGO

Fast jedes Schulkind hat heute ein Smartphone – und damit Zugang zum Internet. Dort warten nicht nur Spiel und Spaß, sondern auch Gewalt und Missbrauch. Digitaltrainer Daniel Wolff aus Grafrath klärt an Schulen über Gefahren im Netz auf. Seine Erfahrung: Das Einstiegsalter wird immer jünger. Er fordert deshalb einen effektiven Kinderschutz im Netz – und Smartphones erst ab 14 Jahren.

Herr Wolff, warum bekommen Kinder immer früher ein Handy?

Weil viele Eltern noch nicht verstehen, dass die Übergabe eines Smartphones an Kinder ein lebensverändernder Moment ist. Sie kennen die für Kinder negativen Seiten der digitalen Welt nicht, weil sie selbst als Kind kein Smartphone hatten. Kinder benutzen aber das Internet und viele Apps ganz anders als Erwachsene: Wir verschicken per WhatsApp vor allem Informationen; Kinder dagegen nutzen WhatsApp im Wesentlichen zum Spaß. Meiner Ansicht nach ist ein Smartphone das komplizierteste Gerät der Welt, weil es mit jeder benutzten App seinen Charakter völlig ändert.

Das Internet gibt‘s mit dem Smartphone gleich dazu. Was macht das mit den Kindern?

Gefahr Nummer eins ist in meinen Augen das Suchtpotenzial: Kinder wollen mit dem Handy erst nicht mehr aufhören und später können sie es nicht mehr. Sie überreden ihre Eltern, dass sie abends nur noch etwas Musik hören oder die Weckfunktion nutzen wollen. Über 50 Prozent der Eltern erlauben deshalb sogar Grundschulkindern, das Smartphone mit ins Bett zu nehmen! Das Erste, was fast alle Kinder dann machen: Lautstärke auf null und Display abdunkeln, damit die Eltern nichts merken. Und dann schauen sie ohne Ende YouTube und TikTok, chatten mit Freunden und spielen Handy-Spiele. Viele Kinder zocken heimlich bis Mitternacht, manche sogar bis zum Morgengrauen – um dann völlig übermüdet in der Schule zu sitzen.

Neben dem Suchtfaktor: Welche Gefahren birgt das Internet selbst?

Jedes Smartphone hat eine Kamera und Kinder experimentieren gerne. Es besteht die große Gefahr, dass Bilder der Kinder im Netz landen – auch solche, auf denen sie nicht oder nur halb angezogen sind. Und Pädokriminelle machen sich übers Internet systematisch an Kinder ran. Sie wissen, wie man Kinder am besten manipuliert. Eltern wiederum halten Grundschulkinder für zu jung für dieses Thema und sprechen selten mit ihnen darüber – aber dann trauen sich die Kinder leider im Ernstfall auch nicht, ihren Eltern etwas zu sagen.

Sind Kinder vor gewalttätigen Inhalten auf Internetplattformen geschützt?

Nein, es gibt derzeit im Internet keinerlei funktionierenden Kinder- und Jugendschutz. Stattdessen sind vor allem auf YouTube grausamste Videoclips immer nur einen Klick entfernt, obwohl sie für Kinder nicht zugänglich sein dürften. Viele Kinder mit Smartphone haben schon bestürzend gewalttätige Inhalte gesehen – anfangs meist ohne Absicht. Lehrkräfte, denen wir nach den Workshops diese Filme oder Spiele zeigen, halten das oft keine 20 Sekunden aus.

Wie können Eltern, deren Kinder schon ein Smartphone haben, sie besser schützen?

Es ist bei jüngeren Kindern sehr sinnvoll, technische Möglichkeiten zur Begrenzung von Handyzeit zu nutzen und nur ausgewählte Apps zuzulassen. Das allein löst aber das Handyproblem nicht! Deshalb empfehlen wir, sich vor der Handy-Übergabe einen Tag Zeit zu nehmen und einen Vertrag zwischen Eltern und Kindern auszuarbeiten – am besten jedes Jahr neu zum Schulbeginn.

Sie unterstützen eine Initiative, die erreichen will, dass Kinder erst mit 14 Jahren ein Smartphone bekommen. Wie ließe sich das erreichen?

Wir brauchen viel mehr Kompetenzvermittlung für digitale Medien, auch und vor allem für die Eltern. Außerdem brauchen wir eine gesellschaftliche Diskussion über die Frage, ob wir Social-Media-Apps erst ab 16 Jahren zulassen sollten. TikTok beispielsweise ist ab 13 – und „überprüft“ das durch eine einfache Abfrage des Geburtsdatums. Kontrolliert wird das nicht. Dass es in der App aber Funktionen für Live-Streaming oder Geldgeschenke gibt, die sogar TikTok selbst als „ab 16“ oder als „ab 18“ einstuft, wissen weder Kinder noch Eltern. Wir lassen den Digitalkonzernen derzeit aus Unwissenheit freien Lauf – und die verweigern sich aus Kostengründen oder mit dem Vorwand der angeblichen „Zensur“ einer effektiven Alters- oder Inhaltskontrolle.

Brauchen wir schärfere Gesetze?

Jeder Nachtclubbesitzer, jeder Casinochef, jeder Kinobetreiber muss sicherstellen, dass gesetzliche Altersgrenzen eingehalten werden, sonst kassiert er empfindliche Strafen. Genauso muss es für die Digitalkonzerne sein, die zu den reichsten Unternehmen der Welt gehören. Wir können nicht länger warten. Jede Nacht werden Kinder im Internet traumatisiert.

Was können Eltern tun?

Mit dem Smartphone so lange warten, wie es geht, und dafür Verbündete finden. Wenn die beste Freundin auch keines hat, hält man es besser aus. Das Handy von vornherein nachts aus den Schlafzimmern verbannen. Sich fit lesen und interessiert daran sein, womit sich die Kinder am Smartphone beschäftigen. Und zuallererst den Kindern versichern: „Ich werde dir nie aufgrund irgendwelcher Inhalte dein Handy wegnehmen.“ Denn nur Kinder, die keine Angst vor Strafe haben, werden mit schlimmen Erlebnissen zu ihren Eltern kommen. Wir müssen uns das Vertrauen unserer Kinder aktiv verdienen.

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